Wer die Macht hat
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)08.10.1994)

Langsam begann sich der Hörsaal mit mehr oder weniger wißbegierigen jungen Menschen zu füllen. Vorne stand schon der Overhead-Projektor bereit, um die von Professor Damme vorbereiteten Folien an die Wand zu werfen. Eigentlich gehörte ich gar nicht zum Kreise der Psychologiestudenten, aber dennoch besuchte ich nun schon regelmäßig die Vorlesungen dieses Fachgebietes. Dabei ging es mir weniger um das – zugegeben sehr interessante – Thema. Vielmehr betrieb ich hier meine eigenen Studien, die sich mit ähnlichen Dingen beschäftigten, allerdings spezieller Art waren. Genauer gesagt, ich hatte vor wenigen Wochen festgestellt, daß eine junge Studentin namens Kimberly, die von ihren Freunden und Bekannten immer nur Kim genannt wurde, dieses Studienfach belegte. Ich konnte nun nicht mehr anders, als ihr zu folgen wohin sie auch immer ging, unter anderem auch in den Hörsaal Nummer neun der Universität. Mein eigenes Sachgebiet, ich studierte Literatur, forderte zwar schon eine Menge Energie von mir, aber ich hatte nun etwas anderes gefunden, das meine volle Aufmerksamkeit benötigte und auch verlangte. Dies war nun schon die sechste Vorlesung, die ich mit ihr zusammen besuchte. Von meinem Platz aus blieb mir nichts verborgen, weder ihre Art, sich Notizen zu machen, noch ihre Gedanken, denn ich hörte sie, als spräche sie mit mir. Jedoch war sie sich nicht bewußt, daß ich seit einiger Zeit jeden ihrer Schritte beobachtete.

Die Vorlesung von Professor Damme näherte sich dem Ende. Er hatte seinen Zuhörern wortreich mehrere verschiedene Theorien über den Wahrheitsgehalt von Hypnoseexperimenten nahegebracht, und nicht nur Kimberlys Notizblock war voller Eintragungen, die zu Hause ausgewertet werden wollten. Vorerst aber nahm sie sich vor, einige dieser Theorien mit Artikeln in diversen Fachmagazinen zu vergleichen, die sie in der Bibliothek einsehen wollte. Mit ihren Heftern unter dem Arm machte sie sich auf den Weg durch die verschlungenen Korridore der Gebäude zur Bücherei. Unterwegs traf sie ihre Freunde, Ralf und Nicole, die Physik studierten. Sie kannten sich seit der letzten Studentenfeier, bei der sie bemerkt hatten, daß sie scheinbar die einzigen waren, die ein wenig außerhalb der gewöhnlichen Studiengänger standen. Die Mehrzahl der dort Anwesenden gab sich steif und intellektuell, zwei Eigenschaften, die Kims Meinung nach überhaupt nichts auf einer Feier zu suchen hatten. So waren sie natürlich ziemlich sofort einander aufgefallen, und bis heute trafen sie sich regelmäßig zu abendlichen Disco- oder Kneipenbesuchen.

»Wohin so eilig?« fragte Nicole. »Kannst du's mal wieder nicht erwarten, die Bücher zu wälzen?«

»Was sein muß, muß sein«, meinte Kim lachend mit ihrem unnachahmlich amerikanischen Akzent, der sich in den fünf Jahren, die sie schon hier wohnte, kaum verloren hatte. »Wir haben in zwei Wochen wieder eine dieser lästigen Prüfungen, darauf will – muß ich mich ein wenig vorbereiten.«

»Streß laß nach«, kommentierte Ralf. »Unsere nächste Klausur liegt noch einen Monat in der Zukunft. Allerdings wird da so viel Stoff durchgekaut, daß ich gar nicht weiß, wo ich zuerst anfangen soll.«

Gemeinsam betraten sie die Bibliothek durch die gläserne Drehtür. Sie suchten sich einen größeren Tisch, an dem sie bequem alle drei Platz fanden. Bald schon stapelten sich bei ihnen die verschiedensten Schriftwerke über Psychologie, speziell über die Erforschung des Un- und Unterbewußten und über die Atmosphärenphysik. Es gab für sie alle eine Menge zu tun, unablässig lasen und schrieben sie, setzten aus den gehörten Fakten und Hypothesen ihre eigenen Aufzeichnungen zusammen. Ich selbst nahm an meinem Tisch Platz und setzte meine Beobachtungen fort. Auch ich las und schrieb, aber ich las nicht in einem Buch, sondern in Kims Gedanken und ihrem Gesicht.

Gegen vier Uhr nachmittags kam sie nach Hause. Sie öffnete die Tür ihres kleinen Appartements im ersten Stock und ließ sich bald darauf auf das weiche Sofa fallen. Ein wenig Ruhe wollte sie sich heute noch gönnen, denn am Abend war sie mit ihren Freunden verabredet. Sie hatten sich diesmal ein kleines Café am Stadtrand ausgesucht, in dem, wie Ralf sagte, gute Musik und ausgezeichnetes Essen zu erwarten war. Als sie dann das Radio einschaltete, ließ ich ihr zu allererst You can call me Al von Paul Simon laufen, da ich immer bemüht war, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ich wollte einfach, daß sie glücklich war, dazu gehörten auch diese kleinen Dinge des Lebens. Zufrieden summte sie vor sich hin, während sie sich entspannte.

Kim betrat das Café etwa zehn Minuten nachdem sie aus dem Bus ausgestiegen war. Nicole saß bereits an einem der zahlreichen Tische. Ralf war noch nicht eingetroffen. Die beiden Freundinnen begrüßten sich, während Kimberly Platz nahm. »Was ist denn mit Ralf?« fragte sie, nachdem sie sich einen Martini bestellt hatte.

»Weiß nicht. Wahrscheinlich hat er wieder mal Probleme mit dem Wagen. Ich hab noch nicht ein Mal gesehen, wie er sofort beim ersten Versuch angesprungen ist.«

»Dann kann das ja noch eine Weile dauern«, meinte Kim. »Und wie geht es sonst so? Was gibt's Neues?«

Nicole machte eine unbestimmte Handbewegung. »So lala, das Alte wird nicht alle. Es könnte besser sein. Aber wann läuft schon mal alles so, wie man's gerne hätte.«

»Was stimmt denn nicht? Hast du Ärger mit Tom?«

Nicole sah bedrückt aus. »Keine Ahnung woher du das wieder weißt, aber du hast recht. Ich habe mich gestern von Thomas getrennt. Es hatte einfach keinen Sinn mehr. Das Studium nimmt so viel Zeit in Anspruch, und er hat sich von mir vernachlässigt gefühlt. Ich denke, es ist besser so.«

»Du schaffst das schon«, sagte Kim und legte ihre Hand sanft auf Nicoles ausgestreckten Arm.

Sie lächelte etwas gequält. »Und was ist mit dir? Noch keine Verbindung in Aussicht? Oder hast du im Moment auch Besseres zu tun als herumzuflirten?«

»Nein, Probleme mit der Zeit hab ich eigentlich kaum. Ich würde eher sagen, die Typen sind das Problem. Bis jetzt habe ich keinen gefunden, der ein solches Risiko wert gewesen wäre.« Sie nippte an ihrem Getränk, das ihr die Bedienung gerade gebracht hatte. »I'd rather be alone than deserted, wenn du weißt, was ich meine.«

Nicole nickte. »Scheiß Gefühl, das kann ich dir sagen.« Sie hielt inne, als Ralf plötzlich von hinten an den Tisch kam.

»Was ist los?« fragte er belustigt.

»Frauengespräche«, gab Kim zurück. »Keine Männer zugelassen.« Sie winkte ihrem Studienkollegen. »Nun setz dich schon hin. Wir haben uns gefragt, wo du so lange bleibst.«

»Ich hatte noch ein paar Besorgungen zu machen«, sagte Ralf. »Dann ist mir meine Kiste zweimal an der Ampel ausgegangen.«

Nicole zwinkerte Kim lachend zu. »Was hab ich gesagt?« Kimberly stimmte mit in das Lachen ihrer Freundin ein.

»He, Moment!« beschwerte sich Ralf. »Keine Witze über mein Auto, klar? Es hat immerhin schon mehr Jahre auf dem Buckel als ihr beide zusammen!«

Jetzt waren Nicole und Kim an der Reihe, zu protestieren. »Woher willst du denn wissen, wie alt ich bin?« fragte Nicole. »Oder wie alt Kim ist.«

Sie neckten sich eine Zeitlang und machten Witze, bis gegen zehn Uhr die Tanzfläche geöffnet und die Musik lauter gedreht wurde. Natürlich waren die drei mit Feuereifer dabei und tanzten im Takt der Musik zusammen mit einigen der übrigen Gäste. Kim ließ ihr gewelltes dunkles Haar fliegen, während sie ausgelassen herumwirbelte. Sie wollte alles um sich herum vergessen, Studium, Geld, Leben, Psychologie, einfach alles. Heute konnte sie sich das auch leisten, denn morgen war ein Samstag, und das bedeutete, daß sie nicht so früh aufstehen mußte. Erst gegen fünfzehn Uhr war sie mit Dr. Karls im Institut verabredet, um neue Tests zu veranstalten. Also war das erste Mal in dieser Woche ausschlafen angesagt.

Von allen Menschen im Café unbemerkt saß ich allein an meinem Tisch und beobachtete. Ihr zuzusehen war eine reine Freude. Ihr schlanker Körper floß in geschmeidigen Bewegungen, die hellen Augen glänzten im künstlichen Licht der bunten Scheinwerfer, sie war der pure, unverfälschte Begriff der Schönheit. Was zählte da schon die Literatur.

Es war bereits elf Uhr, als Kimberly endlich wach wurde. Durch ihr Schlafzimmerfenster schien die herbstliche Sonne herein und kitzelte ihre Nase. Sie überlegte, ob sie sich noch einmal herumdrehen sollte, entschied sich dann doch noch schweren Herzens fürs Aufstehen. Schließlich wollte sie erst in Ruhe etwas essen, um dann nachmittags ins Institut zu gehen. Darauf mußte sie sich auch noch vorbereiten. Im Bad ließ sie sich Zeit, stieg erst nach einer halben Stunde aus der Dusche und verbrachte eine weitere damit, ihre zerzauste Frisur vor dem großen Wandspiegel in den Griff zu bekommen. Endlich bereit für den Tag, ging sie in ihre kleine Küche, um sich ihr Frühstück zu bereiten. Das Radio spielte angenehm ruhige Musik, genau das Richtige, um sich auf einen neuen Tag einzustimmen. Schließlich räumte sie das Geschirr ab und verließ ihre Wohnung, damit sie noch etwas fürs Wochenende einkaufen konnte, ehe die Läden dichtmachten. Gegen halb drei Uhr kam sie mit Wurst, Käse und Tiefkühlgemüse zurück. Jetzt mußte sie sich doch noch etwas beeilen, um nicht zu spät zu Dr. Karls zu kommen. Ziemlich genau um fünfzehn Uhr stand sie vor dem schweren Stahltor, an dessen rechter Mauer ein bronzefarbenes Schild mit schwarz eingelegten Gravuren hing. Institut für Parapsychologie, Dr. Karls stand darauf. Sie drückte auf den kleinen Knopf darunter und wartete ab. Währenddessen erinnerte sie sich daran, wie alles begonnen hatte.

Eigentlich sollte es ein ruhiger Sonntag werden, den Kimberly mit ihrer Freundin verbringen wollte. Die sommerliche Luft war klar und warm, angenehme achtundzwanzig Grad luden zu einem Freibadbesuch förmlich ein. Fröhlich vor sich hin pfeifend schlenderte sie die Straße entlang. Nicole würde bereits mit gepackten Badesachen auf sie warten, da war sie sich sicher. Deshalb machte sie lange Schritte, um ihre Freundin nicht zu lange auf die Folter zu spannen. Gutgelaunt schwenkte sie mit ihrem Jutebeutel herum, während sie in die nächste Straße einbog. Hier spielten ein paar Kinder mit einem bunten Plastikball. Wie können die sich bei dieser Hitze nur so abhetzen? dachte sie, als plötzlich ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke geschossen kam. Zu ihrem Schrecken sah sie, daß eines der Kinder auf die Fahrbahn gelaufen war, da sich der Ball einen Augenblick lang selbständig gemacht hatte. Offensichtlich konnte nur noch das Unvermeidliche geschehen. Um Gottes Willen! dachte Kim noch. Runter von der Straße! Dann rief sie ein paar Worte, doch auf einmal explodierte etwas in ihr, schoß aus ihr heraus, das Kind wurde nach hinten auf den Bürgersteig geschleudert, während der Ball eine Sekunde darauf unter dem linken Vorderreifen des Wagens zerplatzte. Schließlich kam sie eine halbe Stunde zu spät bei ihrer Freundin an, sie war nach diesem unfaßbaren Ereignis eine Weile ziellos herumgewandert, um ihre verwirrten Gedanken zu ordnen. Erzählt hatte sie Nicole nichts davon, sie wußte ja selbst nicht, was da genau geschehen war.

Seitdem hatte sie mehrfach gespürt, wie sich eine merkwürdige Kraft in ihr regte, etwas, das sich nicht kontrollieren ließ. An einem Tag stieß sie sogar versehentlich eine Tasse Kaffee um, die sich noch nicht einmal in ihrer Reichweite befunden hatte. Das hatte sie schließlich dazu gebracht, sich mit dem Institut in Verbindung zu setzen. Dr. Karls, der sie damals untersucht hatte, kam zu dem Schluß, daß sie die Trägerin beträchtlichen parapsychologischen Potentials war. Sie sollte niemandem etwas davon erzählen, damit nicht die falschen Leute von ihrer Fähigkeit Wind bekamen. Es gab da nämlich eine Vereinigung die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diese unberechenbaren Kräfte für üble Zwecke zu benutzen. So blieb sie still, niemand, nicht einmal Nicole wußte um die merkwürdige Veränderung, die in ihr vorgegangen war.

»Hallo?« Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher war Kimberly mittlerweile wohlbekannt.

»Ich bin es, Kim«, antwortete sie. »Ich sollte heute um drei Uhr zu Dr. Karls kommen. Er erwartet mich.« Es klickte einmal kurz, dann summte der Türöffner, und Kim betrat das Gelände. Der breite Weg führte sie schnurstracks zu dem rot verklinkerten Hauptgebäude, das imposant aus einer Menge Bäume und Büsche herausragte. Sie durchquerte den geschmückten Eingang und wurde gleich darauf im Korridor von ihrem Forschungsleiter begrüßt.

»Kimberly! Hallo. Wie geht es dir?«

»Sehr gut, danke«, erwiderte sie, während sie zusammen den Korridor entlanggingen. »Was steht heute auf dem Programm?«

»Kartenspiele«, meinte Dr. Karls. »Ich habe einen Versuch vorbereitet, mit dem ich deine seherischen Talente ergründen will. Du wirst sehen, es wird dir Spaß machen.«

Kim verzog das Gesicht. »Die Sache mit den Würfeln letzte Woche war mir eher unheimlich. Irgendwie begreife ich das alles immer noch nicht.«

»Das braucht seine Zeit, glaube mir«, sagte der große Mann. »Wenn du erst einmal die Grenzen deiner Gabe gefunden hast, kommt dir das gar nicht mehr so schrecklich vor. So, da wären wir«, kommentierte er und deutete auf eine grün gestrichene Tür. »Testraum Nummer dreizehn, irgendwie schicksalhaft, oder?«

Kim lächelte, dann öffnete sie den Zugang. Es war ein Raum, wie sie nun schon viele kennengelernt hatte; mehrere elektronische Apparaturen, angeschlossen an einen Graphenschreiber, bestimmten eine Seite des Tisches, auf dem ein Stapel recht großer Karten lag. Sie waren ordentlich aufeinandergelegt worden, die Rückseite zeigte nach oben, so daß das eigentliche Bild verborgen blieb. Was nun folgte, war die übliche Routineprozedur. Sie setzte sich auf einen der Stühle, und Dr. Karls befestigte eine Menge kleiner Elektroden an ihren Schläfen, Handgelenken und ihrem Hals. Dann nahm er auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und leitete den Test ein, indem er ein paar Worte in ein Formblatt auf seinem Klemmbrett kritzelte. Dann sah er zu ihr auf und legte seine Notizen beiseite. »Bist du soweit?«

»Ja. Was soll ich machen?«

Der Wissenschaftler schaltete den Graphen ein, der sofort damit begann, auf dem langsam vorbeiziehenden Millimeterpapier mehrere parallele dünne Linien zu ziehen. »Du sagst mir einfach, welche Karte als nächste auf dem Stapel hier liegt. Es ist ein normales Skatblatt, nur etwas größer. Also, konzentriere dich. Welche Karte wird es sein?«

Kim schloß die Augen und atmete tief durch. Der Schreiber begann zu zittern. »Herz Bube«, sagte sie.

Dr. Karls zuckte mit den Schultern und legte die Karte beiseite. Dann nahm er die nächste von dem kleinen Stapel. »Versuch es noch einmal.«

Wieder konzentrierte sie sich. Wie auch schon bei der ersten Karte sah sie ganz deutlich das Bild vor ihren Augen, es konnte gar nicht falsch sein. »Kreuz sieben.«

Ich konnte es kaum fassen, als der Wissenschaftler auch diese Karte bedauernd zur Seite legte. Ich war mir so sicher gewesen, daß Kim recht hatte, aber anscheinend lagen wir beide falsch. Eine Karte nach der anderen wurde gezogen, das Mädchen versuchte sie zu bestimmen, dann landeten sie auf dem zweiten Stapel.

Etwa nach dem zwanzigsten Versuch wurde Kimberly ärgerlich. »Ich verstehe das nicht«, beschwerte sie sich. »Ich bin mir so sicher, daß ich die Karten richtig gesehen habe.«

»Das macht doch nichts, Kim. Probieren wir es nochmal, du schaffst das schon.«

Kim brachte sich zur Ruhe. Erzwingen ließ sich so etwas nicht, sie mußte sich einfach besser auf den Test einstimmen. Sie zögerte lange, ehe sie ihre Antwort gab: »Pik As.«

Mit leichtem Schwung flog auch diese Karte zur Seite. Ich sprang wütend auf und verstreute dabei meine Notizen. Auch Kim war unzufrieden. Sie wollte sich schon die Elektroden von der Haut reißen, doch Dr. Karls kam ihr zuvor. »Der Test ist wirklich gut verlaufen«, kommentierte er und schaltete dabei den Graphen ab, der im Moment ohnehin nur unsinnige Linien kritzelte.

Sie sah ihn fragend an. »Aber ich habe doch keine einzige der Karten erkannt.«

»Was würdest du sagen, wenn ich dir verraten würde, daß ich gelogen habe?« Er nahm den abgelegten Stapel auf. »Hier. Herz Bube, Kreuz sieben, Karo zehn, Kreuz acht und so weiter, bis zum Pik As. Alles richtig.«

Fassungslos starrte Kim die Spielkarten an, die Dr. Karls eine nach der anderen in einer langen Reihe vor sich auf den Tisch legte. »Dann stimmten meine Voraussagen also doch«, beschwerte sie sich ärgerlich. »Warum-«

»Ein Teil des Tests«, erklärte er. »Ich wollte sehen, ob du auch unter Druck deine Fähigkeiten einsetzen kannst, ob du richtig damit umgehst. Anscheinend kann dich dabei so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Aber du hast nicht erkannt, daß ich dich angeschwindelt habe.«

»Na ja, Gedankenlesen ist nicht so mein Gebiet.«

Dr. Karls entfernte endlich die Elektroden, und Kim stand von ihrem Platz auf. Ich beeilte mich, meine Papiere einzusammeln, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie gingen nun über den langgestreckten Gang des Instituts. Als ich wieder nahe genug herangekommen war, konnte ich ihr Gespräch wieder verfolgen. Natürlich kannte ich beinahe jedes Wort von ihnen schon im voraus, aber ich wollte es aus ihrem Munde hören.

»Du bist bisher das größte parapsychologische Talent, das mir in meiner Forschungszeit begegnet ist, Kimberly«, sagte der Wissenschaftler gerade. »Deshalb habe ich noch einige Tests vor, aber dazu müßtest du öfter hier sein, ein Tag in der Woche ist nicht genug.«

»Im Augenblick habe ich noch eine Menge in der Uni zu tun, damit ich die Prüfung über die Bühne bringen kann. Aber ich glaube, ich kann da noch ein wenig Zeit herausschlagen. Ich bin nur nicht sicher, ob ich immer am selben Tag für Sie Zeit haben werde.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Für dieses Projekt werde ich die oberste Priorität setzen. All die anderen Fälle, die wir hier untersuchen, kann ich auch auf meine Assistenten verteilen. Aber diese spezielle Sache möchte ich gerne selber untersuchen. Da kann ich wenigstens sicher sein, daß mir nichts von den wichtigen Fakten und Kleinigkeiten verlorengeht.«

Kim wurde etwas verlegen. »Ich wußte gar nicht, wie bedeutend das für Sie ist.«

»Das kannst du auch nicht. Du kennst nur deine eigenen Fähigkeiten. Wenn man aber hier arbeitet und jeden Tag diese verrückten Typen um sich hat, die behaupten, übersinnliche Fähigkeiten zu haben, Unglücke vorauszusagen und weiß der Kuckuck was nicht noch alles, da ist es doch sehr selten jemanden zu finden, der wirklich solche Dinge fertigbringt. Außerdem bist du bisher die einzige im Institut, die Voraussagen und Telekinese beherrscht.« Er überlegte einen Moment lang. Dann lachte er. »Weißt du, was wir neulich für einen Kerl hier hatten? Er sagte, er hätte mentalen Kontakt mit außerirdischen Wesen, er würde sie sprechen hören und so was alles. Er war so überzeugt von seiner Behauptung, daß er uns sogar eine detaillierte Beschreibung der Aliens und ihrer Fluggeräte gab. Natürlich war davon kein Wort wahr, aber was glaubst du, wie viele Menschen sich mit solchen oder ähnlichen Dingen täglich bei uns melden?«

»Keine Ahnung. Vier oder fünf vielleicht.«

»Dreißig. Gestern nach dem Gewitter sogar vierundvierzig. Einer davon war sogar schon vorher mal hier gewesen, aber da hatte er noch mit telepathischem Können aufgewartet.«

Kim lachte nun ebenfalls. »Wie halten Sie das nur hier aus?«

»Durch Fälle wie deinen. Ich gehöre zwar nicht zu den parapsychologisch Begabten, aber ich habe doch eine gewisse Vorstellungen von dem, was ihr so durchmacht. Das Wissen, etwas in sich zu haben, das jederzeit unkontrolliert ausbrechen kann, das muß wirklich bedrückend sein. Darum bemühe ich mich, Menschen wie dir zu helfen, euch die Richtung zu weisen, eure Kräfte zu disziplinieren.« Er wurde langsamer und hielt vor einer verglasten Tür an. »So, das ist die psychologische Abteilung, bei uns Historikcenter genannt.« Er öffnete den Eingang und bat sie herein. »Hier werden wir versuchen herauszufinden, wann deine PSI-Vergangenheit begonnen hat, was sie ausgelöst hat. Normalerweise hat eine solche Begabung nämlich einen gewissen Hintergrund, der uns bei der Erforschung äußerst behilflich sein kann.«

Das Historikcenter sah wie ein gewöhnliches Büro aus. Ein Schreibtisch voller Papiere stand der Tür gegenüber mitten im Raum, dahinter führte ein weiterer Durchgang aus dem Zimmer hinaus. Eine ältere Frau saß an dem Tisch und tippte etwas auf ihrer elektrischen Schreibmaschine.

»Ist Dr. Brach im Büro?« fragte er die Sekretärin.

Sie sah kurz von ihrem Schreiben auf. »Ja, Dr. Karls, aber sie hat gerade einen Patienten bei sich. Ich denke, sie werden in ein paar Minuten fertig sein.«

Er bedankte sich und sah wieder Kim an. »Setzen wir uns solange, such dir einen Platz aus.« Sie ließen sich auf den bequemen Sesseln nieder, die an einer Wand aufgereiht standen.

Obwohl sie schon oft hier gewesen war, fühlte sie sich immer noch ein wenig fehl am Platze. Überall liefen die Forscher mit ihren weißen Kitteln herum, gelegentlich traf sie auch mal andere Menschen ihrer Art, aber wohl fühlte sie sich eigentlich nur bei den Tests, denn da waren sie meist in einem kleinen Raum, der weniger kalt und abweisend war als dieses Büro beispielsweise. Natürlich hatte das alles einen psychologischen Hintergrund. Eine Versuchsperson mußte sich bei den Untersuchungen entspannt fühlen, nicht auf den dazwischenliegenden Wegen. Und wenn man froh war im Testraum zu sein, dann um so besser. Ungeduldig tippte sie sich mit den Fingern auf dem Knie herum, während sie wartete.

Endlich öffnete sich die Tür und ein junger Mann kam heraus, begleitet von einer etwa dreißig Jahre alten Frau mit weißem Kittel. »Sie gehen jetzt mit dem Zettel zu Ihrem Projektleiter zurück, ja?« wies sie ihren Begleiter an, der daraufhin aus dem Raum verschwand. »Oh, Dr. Karls. Ist das Ihre neue Schülerin? Kimberly, nicht wahr? Ich habe schon eine Menge von dir gehört.« Sie streckte ihre Hand aus. Kim ergriff sie. »Du mußt wirklich ein außergewöhnlicher Fall sein, denn sonst bekommt man von Gerhard nie etwas zu hören.« Sie betraten gemeinsam das Hinterzimmer.

Jetzt war sie in einem Raum, wie sie ihn sich als typisches Behandlungszimmer eines Psychiaters vorstellte. Ein langer Schreibtisch an einer Seite, ein Sessel und eine Liege auf der anderen. Die Wände waren mit einer pastellfarbenen Tapete bedeckt, mehrere Bilder waren aufgehängt worden. Außerdem spendete ein großes Fenster genügend Licht und einige Topfpflanzen rundeten den Anblick ab.

»So, dann wollen wir mal keine Zeit verlieren«, sagte die Frau mit dem Kittel und bat Kim, es sich auf der Liege bequem zu machen. »Haben Sie die Aufzeichnungen dabei?« Dr. Karls gab ihr sein Klemmbrett, und sie las einen Moment lang in den Blättern. »Interessant«, murmelte sie. »Beim Würfeltest gleich drei auf einmal. Nicht schlecht, wirklich.« Schließlich legte sie die Notizen beiseite und zog den Sessel zu Kim ans Kopfende der Liege. »Jetzt entspanne dich. Mach deinen Kopf frei, versuche an möglichst nichts zu denken. Höre einfach auf meine Stimme, alles andere ist im Moment unwichtig.« Sie legte ihre Hände an Kimberlys Schläfen und massierte sie leicht. »Schließe die Augen und denke an deine Kindheit zurück.«

Kim atmete ruhig und gleichmäßig, die Stimme von Dr. Brach wurde sanft und einfühlsam, dirigierte sie durch ihre Gedanken. Ihr Geist löste sich von ihrem Körper, sie begann zu schweben, wurde leicht, so leicht wie ein Heliumballon, dessen Schnur gekappt wurde. Sie stieg auf, immer höher und höher ...

Die Wintersonne schien auf die Kleinstadt nahe der Staatsgrenze herab. Überall waren Kinder zu sehen, die sich mit untergeschnallten Schlittschuhen auf der Eisfläche des zugefrorenen Teiches vergnügten. Rund um das Eis herum saßen oder standen diejenigen, denen es zu glatt oder zu kalt war, oder die einfach keine Lust hatten, mit den anderen herumzutoben. Kim saß zusammen mit ihrer Schwester auf der Parkbank, die im Sommer nur von Rast machenden älteren Männern und Frauen, die sich die Enten auf dem See ansehen wollten, benutzt wurde. Sarah hatte ihren Schlitten mitgenommen und drängte Kimberly, mit ihr auf die kleine Anhöhe im Park zu gehen, die sie bereits von hier aus sehen konnten. Kim wollte aber noch auf Rick warten, der gerade seine Runden auf dem Eis drehte. Alleine konnte Sarah den Schlitten nicht hinaufziehen, und so mußte sie wohl oder übel auch darauf warten, daß Rick die Lust am Eislaufen verlor. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie alle drei langsam den kleinen Hügel hochstapften. In diesem Winter hatte es in Minnesota wirklich einen Rekordschnee gegeben, alleine in der vorletzten Nacht waren zwei Fuß gefallen. Man hatte sogar schon darüber nachgedacht, das allwinterliche Straßenfest ausfallen zu lassen, da die Stadt ein Verkehrschaos befürchtete. Im Augenblick jedoch kümmerte das die drei sehr wenig, sie hatten ihren Spaß, das war das Wichtigste.

Oben auf dem Hügel angekommen, setzte Sarah sich auf ihren Schlitten. Zusammen schoben Rick und Kimberly sie an, dann sauste sie auch schon mit hoher Geschwindigkeit den Hügel hinab. Die beiden älteren Kinder legten sich dabei kopfüber in den Schnee, was großes Gelächter bei den Umstehenden hervorrief. Sie rappelten sich auf und blickten der kleiner werdenden Gestalt des Mädchens hinterher. Als sie unten zum Stehen gekommen war, zog sie den Schlitten gleich wieder zurück. Kim war diesmal schon wieder hinuntergegangen, aber Rick half der Kleineren noch einmal, den Schlitten hinaufzubringen. Ihre größere Schwester wollte unten warten, denn es wurde langsam schon spät, Mom wartete nicht gerne mit dem Essen, das wußte sie. Außerdem hatte sie ein Gefühl ...

Augenblicke später kam Sarah auch schon mit dem Schlitten heruntergesaust. Rick rannte hinterher und versuchte Schritt zu halten, aber das war nicht möglich. Laut juchzend raste das kleine Mädchen die Abfahrt hinunter, schneller als zuvor. Außerdem stimmte ihre Richtung nicht. Sie fuhr genau auf den See zu. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie im Moment unterwegs war, würde sie bis auf die Mitte des Eises hinausschießen. Kimberly beeilte sich, dorthin zu kommen. Aber schon wenige Sekunden darauf traf die erste Kufe des Schlittens die harte Fläche. Sarah kippte mitsamt dem Holzgestell um, und zu Kims Entsetzen brach die Eisfläche an dieser Stelle auseinander. Ihre Schwester klatschte ins eisige Wasser und war nur Augenblicke später verschwunden. Jetzt rannte Kim noch schneller. Als sie an dem unregelmäßig gezackten Loch ankam, waren dort schon mehrere der Kinder versammelt. Alle hielten sich möglichst von den unsicher aussehenden Rändern fern, nicht aber Kimberly. Die Angst um ihre kleine Schwester duldete keine Vorsicht. Panisch arbeitete sie sich bis zur Kante nach vorne und starrte in die Tiefe. Dann streckte sie einen Arm hinunter. Das Wasser war wirklich eiskalt, noch dazu trübe. Sie konnte nichts fühlen, nichts sehen. Die Kleine war verschwunden. »Sarah«, flüsterte Kim. »SARAH! Komm wieder rauf! Los doch! Sarah, bitte!«

Plötzlich geschah tatsächlich etwas; Luftblasen kamen an die Oberfläche, einen Augenblick später Sarahs Wintermütze. Kim fischte sie heraus und betrachtete sie stumm. Einen Augenblick später kam dann der Kopf ihrer Schwester ans Licht. Kimberly konnte es zuerst nicht glauben, dann aber zerrte sie den kleinen Körper aus dem Wasser heraus. Ihre Haut fühlte sich eisig an, aber sie atmete noch.

Glücklicherweise hatte jemand die Szene beobachtet und einen Krankenwagen gerufen. So konnte Sarah direkt behandelt werden. Sie hatte zwar eine schwere Unterkühlung, sonst war ihr allerdings nichts passiert.

Als Kim wieder wach wurde war es mir, als hätte man mich ebenfalls hypnotisiert. Ich starrte verwundert auf das, was ich geschrieben hatte, es waren genau die Eindrücke gewesen, die ich von ihr empfangen hatte; ich konnte mich nicht daran erinnern, mir das selbst ausgedacht zu haben. Das brachte mich dazu, mehr auf die Geschehnisse zu achten, sie durften mir nicht wieder aus der Hand gleiten. Auch Dr. Brach hatte sich Aufzeichnungen angelegt, die sie jetzt murmelnd überflog. »Anscheinend war das deine erste Erfahrung mit deinen Kräften«, begann sie. »Aber ich nehme an, damals hast du gar nicht weiter darüber nachgedacht, sie war ja einfach wieder aufgetaucht.«

Kim nickte. »Ich war einfach so froh, da war alles andere erstmal egal. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich mit diesen Para-Dingen zu tun hat. Ich habe doch nichts gemacht.«

»Nicht bewußt, da hast du recht«, erklärte die Psychologin. »Dein Unterbewußtsein hat sich aber eingeschaltet und die Kräfte freigelassen. Du selbst hast deine kleine Schwester an die Oberfläche geholt. Ich schätze, das war auch der Auslöser, die Angst um sie.«

»In beinahe jedem Menschen schlummert eine gewisse paranormale Kraft«, ergänzte Dr. Karls. »Nur bei den wenigsten tritt sie auch sichtbar auf. Dazu braucht es eine Art Ventil, einen Katalysator, der es den Menschen erlaubt, aus dieser Quelle zu schöpfen. Wieder noch weniger Menschen zeigen diese Macht in solchem Ausmaße wie du. Bei den meisten verschwindet es nach einmaligem Auftreten sofort wieder, so daß sie es beinahe gar nicht merken. In anderen Fällen bleibt es verfügbar für sie, man wird zu einem Telepathen oder Seher. Warum das so ist, haben wir noch nicht herausfinden können.«

Mit gemischten Gefühlen verließ Kimberly gegen Abend das Institut. Die Tests waren heute wirklich aufschlußreich gewesen. Aber irgendwie auch erschreckend, besonders das Erlebnis, das sie unter Hypnose gehabt hatte. Dann war das damals also gar kein Glücksfall gewesen? Oder hatte Dr. Brach nur eine Vermutung geäußert? Jedenfalls wurde ihr die ganze Angelegenheit langsam zu viel. Warum gerade sie? Warum nicht irgend jemand anderes, der vielleicht besser mit den Dingen klar kam? Ich hätte ihre Fragen gerne beantwortet, doch das durfte ich nicht. Statt dessen beschloß ich, sie ein wenig von ihren Problemen abzulenken. Sie erschrak einen Moment lang, als ihr unvermittelt jemand auf die Schulter tippte. Es war Nicole.

»Hallöchen«, grüßte ihre Freundin. »Na, was machst du denn hier?«

»Das wollte ich dich gerade fragen.« Kimberly wunderte sich ein wenig, denn Nicole wohnte ein ganzes Stück von hier weg. »Wolltest du irgendwo hin?«

»Ja, zu dir. Ralf hat mir von einer Disco ganz in der Nähe erzählt, da wollte ich dich abholen. Wir könnten uns ja mal einen schönen Abend machen.«

Kim mußte grinsen. Sie wußte worauf ihre Freundin aus war. »Kaum zu haben, stürzt du dich auch schon wieder ins Abenteuer, was?«

Schwatzend und lachend wanderten sie weiter zu Kims Wohnung, wo sie sich für den Abend bereitmachte. Als sie fertig war, traute ich meinen Augen kaum. Ich hatte plötzlich den Wunsch, bei ihr zu sein, aber wahrscheinlich wäre ich ohnehin zu schüchtern, sie anzusprechen. Sie hatte sich ein ärmelloses neonfarbenes Oberteil angezogen, eine lockere Stoffhose umschmeichelte ihre Beine. An der Hand trug sie jetzt einen silbernen Ring, der lebhaft funkelte. Ihre Haarmähne hatte sie mit einem Band zusammengebunden, die Augen mit leichten Strichen eines Kayalstiftes umrahmt. Nicole wandte sich zu ihr um und seufzte. »So kann ich es also auch heute wieder vergessen, einen Jungen an die Angel zu bekommen. Du schnappst sie mir ja sowieso wieder alle weg.«

»Ach was«, wehrte Kim ab. »Du siehst mindestens genau so gut aus.« Nur gut, daß sie meine Meinung nicht kannte. »Außerdem, warum wieder? Sonst bist du es doch immer, die als erste eine neue Bekanntschaft schließt. Jedenfalls war das so, bevor du Tom hattest.«

»Glaub mir, das kommt wieder. Das kommt wieder.«

Gemeinsam gingen sie in das Tanzcafé, nur wenige hundert Meter von Kims Wohnung entfernt, auf der anderen Seite des Parks. Es mußte erst vor kurzem eröffnet haben, denn sie hatte es nie vorher gesehen. Am Eingang bezahlten sie den Eintritt und sahen sich in dem lokalähnlichen Raum um. Eine langgestreckte Bar auf der linken Seite, ein paar Tische und Stühle davor, eine große Tanzfläche rechts. Hinten im Raum konnten sie durch die Leute hindurch das erhöhte Podest sehen, auf dem der Diskjockey seine Anlage aufgebaut hatte. Helle Lampen blinkten in verschiedenen Farben auf, Stroboskopblitze zuckten durch die verräucherte Luft. Die kräftigen Bass-Schläge von 2 Unlimiteds Twilight Zone brachten die Gäste in Bewegung. Nicole und Kimberly holten sich erst einmal etwas zu trinken. Wie immer beobachteten sie zuerst ein wenig die übrigen Leute, ehe sie selbst tanzten.

Während Kim und ihre Freundin fort waren, sah ich mich in dem Raum um. Bald schon fand ich einen vielversprechenden jungen Mann, dessen Blick ich auf Kimberly lenkte. Dann wandte ich mich wieder meinen Aufzeichnungen zu.

Atemlos ließen sich die beiden Freundinnen an der Theke nieder. Sie hatten jetzt eine halbe Stunde ohne Unterbrechung auf der Tanzfläche zugebracht, da brauchten sie eine Pause. Kim bestellte sich noch etwas zu trinken, aber als sie bezahlen wollte, kam ihr jemand zuvor.

»Das geht auf meine Rechnung«, sagte der Fremde und schob dem Kellner seine Karte entgegen.

Erstaunt wandte Kim sich um. »Na vielen Dank auch«, sagte sie zu dem jungen Mann, der sie lächelnd anblickte.

»Was hab ich gesagt«, murmelte Nicole.

»Ich habe dich tanzen sehen«, meinte er, während er sich hinsetzte. »Du hast eine hübsche Frisur. Was dagegen, wenn ich sie dir ein bißchen durcheinanderbringe?«

Kim mußte lachen und verschluckte sich beinahe an ihrem Getränk. »Danke, aber ich hab schon einen Friseur.«

»Der kann aber nicht so gut sein wie ich«, gab er zurück. »Ich bin Richard, der beste Antifriseur in der Gegend.« Er legte den Kopf zur Seite. »Also, wie wär's?«

»Vielleicht sollten wir vorher noch etwas tanzen«, meinte Kim. »Wozu sind wir denn sonst hier.« Sie wandte sich an ihre Freundin. »Wir sehen uns dann gleich«, sagte sie.

Nicole winkte einmal kurz. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie leise zu sich.

Kim ging mit Richard zurück ins Gewühl. Er tanzte wirklich gut, seine Ausstrahlung war ebenfalls angenehm. Zwar war er für ihren Geschmack etwas zu schlank, doch das war nicht weiter schlimm, solange alles andere stimmte. Er begann, sie zu interessieren. Sie hatte schon eine Menge verschiedener Discobekanntschaften gehabt, aber bisher war sie immer noch solo geblieben. Feste Bindungen waren nicht ihre Sache, es sei denn, sie würde sich einmal wirklich verlieben. Doch so nett wie sie Richard fand, auch diesmal sollte es wohl nur eine kurze Sache werden. Und wenn sie sich tatsächlich verliebte, mir würde schon etwas einfallen.

Nicole hatte recht behalten. Kimberly war zu sehr mit Richard beschäftigt um zu sehen, wie ihre Freundin nach einiger Zeit in Begleitung eines Jungen das Lokal verließ. Sie selbst blieb bis fast um drei Uhr, als dann über die Lautsprecher angekündigt wurde, daß die Disco bald schloß. Die Gäste räumten die Tanzfläche und begaben sich langsam aber sicher nach draußen. Richard und Kimberly gingen mittlerweile Hand in Hand über die Straße. »Darf ich dich noch nach Hause bringen?« fragte er.

»Ich habe es nicht weit«, meinte Kim. »Aber wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.«

Gemeinsam schlenderten sie den Gehsteig entlang. Beide waren ziemlich angeheitert, sie lachten und redeten irgendwelchen Unsinn, aber es kam ihnen nicht darauf an, was sie sagten. Schließlich bogen sie in den kleinen Park ein. Um sie herum rauschten die Bäume im sanften Nachtwind. Es war sommerlich warm, keine Wolke verdeckte den sternenklaren Himmel. Dann blieb Richard stehen und sah Kim fest in die Augen. »Du bist das Schönste, das ich je gesehen habe«, flüsterte er. »Aber ich möchte, daß du etwas für mich tust.«

»Was?« fragte Kim ebenso leise.

Er ließ sich ins Gras fallen und zog sie hinterher. »Du sollst mich glücklich machen.« Er rollte sich herum, so daß sie unter ihm zu liegen kam. Dann küßte er sie zärtlich.

Zuerst wehrte Kim sich gegen seine überrumpelnde Art, dann aber begann sie das Spiel zu genießen. Sie erwiderte seinen Kuß und schlang ihre Arme um ihn. Ihre Liebkosungen wurden fordernder und leidenschaftlicher, je länger sie sich in den Armen hielten. Sanft glitt sie mit ihren Händen unter sein dunkles T-Shirt und strich über die heiße Haut seiner Brust; sie fühlte, wie sich ein warmer Schauer in ihrem Körper ausbreitete. Er hob indessen ihr Top an und streichelte langsam ihre Brüste. Dann zog er es ganz über ihren Kopf. Sein Oberteil lag ebenfalls schon neben ihnen im Gras. Er ließ seine Küsse über ihren Hals hinabwandern, bis er die Stelle erreicht hatte, die er gerade eben noch streichelte. Kim schloß die Augen, ihr Atem ging schwer. Doch als sie spürte, daß er sich an ihrer Hose zu schaffen machte, richtete sie sich plötzlich auf. »Nein, Richard. Noch nicht.«

»Aber warum? Ich liebe dich, reicht dir das nicht?« Er sah in ihr Gesicht, und sie legten sich wieder zurück. »Ich werde ganz sanft sein.« Dann küßte er sie wieder.

»Das ist es nicht«, sagte Kim, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten. »Ich will nur nicht sofort, ich brauche Zeit, mich an jemanden zu gewöhnen.« Dann senkte sie die Lider. »Wenn du mich liebst, dann sage mir, welche Farbe meine Augen haben.«

»Das ist doch nicht wichtig, oder?«

Entrüstet drückte sie ihn von sich. »Mir ist es wichtig. Wenn du nicht einmal meine Augenfarbe kennst, wie kannst du mich dann lieben? Wir sollten noch warten, bis-«

»Aber ich brauche dich jetzt.« Richard hatte seine Hände in ihren Haaren vergraben. Sein sanfter Gesichtsausdruck wurde etwas härter. »Willst du mich denn nicht?« Kim wollte aufstehen, aber er hielt sie an ihren Handgelenken fest. »Bitte, bleib bei mir, ich brauche dich.«

»Richard, du tust mir weh.« Kim versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, aber er hielt sie nur noch fester. »Bitte, laß mich los.«

»Ich kann nicht«, flüsterte er. »Du hast mich verzaubert. Ich lasse dich nie wieder fort.« Dann verschloß er ihre Lippen, doch diesmal erwiderte sie den Kuß nicht. Sie versuchte zu schreien, aber sie konnte nicht. Dann spürte sie, wie er ihr die Hände über dem Kopf mit ihrem abgelegten Top zusammenband. Jetzt fingerte er wieder an ihrem Hosenverschluß herum. Verzweifelt versuchte sie ihre Hände freizubekommen, aber der Stoff schnitt ihr schon in die Haut, so fest hatte er den Knoten gezogen. Der Verschluß gab nach, Angst durchflutete ihren Geist. Doch unvermittelt wallte etwas anderes in ihr auf. Sie wehrte sich nicht mehr, ihre Gedanken konzentrierten sich auf ihn, wie er auf ihr lag. Die Qualen spürte sie nun kaum noch, nur die eiskalte Wut, die von ihr Besitz ergriff. Sie ballte ihre Kraft zusammen und schleuderte sie auf ihn. Gequält schrie er auf und ließ von ihr ab. Mit den Händen hielt er sich seinen Kopf. Kimberly hielt ihre Wellen aufrecht, sie drang in ihn ein, bereitete Schmerzen. Er taumelte zurück, immer wieder warf er sich von einer Seite auf die andere, um die schrecklichen Schmerzen loszuwerden. Er konnte nicht mehr fliehen. Schließlich sackte er in die Knie, Blut floß ihm aus der Nase. Ein letztes gepreßtes Röcheln, dann kippte er vornüber und bewegte sich nicht mehr.

Endlich hatte Kim sich wieder unter Kontrolle. Voller Schrecken sah sie, was geschehen war. Richard hatte sich, seit er gefallen war, nicht mehr gerührt. Hastig befreite sie sich und zog sich wieder an. Dann ging sie vorsichtig zu dem jungen Mann hinüber. Immer noch floß eine leichte Blutspur aus seiner Nase. Sein Gesicht lag ihr zugewandt, die leblosen Augen starrten in die Nacht.

»Scheiße«, flüsterte sie. »Das habe ich nicht gewollt ...« Rückwärts zog sie sich von dem liegenden Körper zurück, der Schock saß ihr noch in den Gliedern. Wie konnte sie so etwas tun? Wie konnte sie?

Dann drehte sie sich plötzlich um und begann zu laufen. Sie rannte und rannte. Fort von dem Toten, fort aus dem Park, fort von ihrem furchtbaren Verbrechen. Doch ihr Gewissen ließ sich nicht abhängen, es holte sie immer wieder ein. Viele hundert Meter weiter brach sie erschöpft auf dem Gehsteig zusammen, niemand der spärlichen Fußgänger nahm Notiz von dem zusammengesunkenen Körper.

Die düstere Gestalt eines Mannes zog sich aus dem Park zurück, er hatte genug gesehen.

Es dauerte lange, bis sie wieder klar denken konnte. Die Geschehnisse der letzten Nacht holten sie wieder ein. Richard und seine fordernde Natur, wie er sie gezwungen hatte, ihm zu geben was er wollte. Dann diese furchtbare Kraft, die aus ihr herausgebrochen war. Sie hatte es nicht einmal steuern können. Und wenn es noch einmal geschah? Sie hatte einen Menschen ermordet, sie war schuldig. Aber nicht nur sie; ich war ebenso schuldig, ich hätte es verhindern können, aber die Situation war mir aus der Hand geraten. Das durfte mir nie wieder passieren. Ab jetzt mußte ich besser auf das achten, was geschah. Mit noch größerer Sorgfalt notierte ich mir nun alles, was vor sich ging.

Nicole schlummerte friedlich, als es plötzlich an der Tür läutete. Zuerst bekam sie es gar nicht mit, aber dann klingelte es Sturm. Verschlafen stand sie auf und ging zur Tür. Sie drückte die Sprechtaste. »Was ist?«

»Nicole, mach auf! Ich bin es, Kim! Bitte, es ist wichtig!« Die Stimme ihrer Freundin klang beunruhigt. Das machte Nicole Sorgen. Sie drückte den Öffner und entriegelte ihre Wohnungstür. Wenig später hörte sie, wie Kimberly die Treppe heraufkam. Schon ihr Anblick bewies, daß etwas nicht stimmte. Die Frisur war vollkommen außer Form geraten, ihre Kleidung saß nur noch schief, die Schminke war völlig verlaufen. Man sah ihr an, daß sie stundenlang geweint haben mußte.

»Mein Gott, Kim!« entfuhr es Nicole. »Komm rein. Was ist passiert?«

Ihre Freundin betrat die kleine Wohnung, und Nicole schloß die Tür wieder ab. Als sie sich umdrehte saß Kim auf der Couch und blickte apathisch geradeaus. Sie setzte sich behutsam neben sie und wartete. Plötzlich brach Kimberly erneut in Tränen aus, und Nicole zog sie an sich. Leise murmelte sie tröstende Worte, während sich ihre Freundin in ihren Armen ausweinte. Immer noch wußte sie nicht, was geschehen war, doch das hatte Zeit bis Kim sich beruhigt hatte.

Endlich schien es, als würde sie wieder zur Besinnung kommen. Sie blickte Nicole ins Gesicht, ihre verzweifelten Züge waren furchtbar anzusehen. »Ich ... Nicky, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Es ist etwas Schreckliches passiert.«

»Möchtest du darüber reden?«

»Ich glaube, ich muß es. Jemand muß es wissen, und ich weiß, daß ich dir vertrauen kann. Nicole, ich ... Scheiße. Ich habe jemanden umgebracht.«

»Soll das ein Witz sein? Dann ist er aber sehr geschmacklos.«

Kim ließ sich in die Polster sinken. »Leider nein, ich habe es wirklich getan. Aber ich wollte es nicht. Es hat mich – gelenkt, oder so. Ich konnte nichts dagegen tun.« Ihr Blick war wieder in eine unbestimmte Ferne gerückt. »Was sollte ich denn tun, es war stärker als ich ...«

Fassungslos starrte Nicole ihre Freundin an. Sie fragte sich, ob Kim den Verstand verloren hatte. Wie sie dort auf der Couch saß und ihr von einem Mord erzählte, das klang unglaublich. Aber andererseits, wie sollte sie auf die Idee kommen, eine solche Geschichte zu erfinden? Es mußte wohl oder übel wahr sein. Trotzdem konnte Nicole sich nicht vorstellen, daß Kim zu einer solchen Tat fähig wäre. »Kim, ich möchte, daß du mir alles ganz genau erzählst, von Anfang an.«

»Ich weiß nicht, ob ich-«

»Aber ich weiß«, unterbrach sie Nicole. »Du sagst, ich soll es wissen. Und du sagst außerdem, daß du mir vertraust. Da hast du auch ganz recht, du kannst mir vertrauen. Aber nur, wenn du auch mir gegenüber vollkommen ehrlich bist. Du mußt mir alles erzählen.«

Kim nickte zögerlich. »Ich werd's versuchen. Aber es wird ziemlich unglaublich klingen.«

»Egal, ich höre trotzdem zu.« Nicole wappnete sich für die kommende Erzählung.

Während Kim sich ihren Kummer von der Seele redete, wurden Nicoles Augen immer größer. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, daß Kim parapsychologisch begabt wäre. In ihrer Gegenwart hatte sie nie davon gesprochen, wahrscheinlich auf Anraten von Dr. Karls hin. Irgendwie faszinierte sie diese neue Seite ihrer Freundin. Daß die Kräfte aber diese Auswirkungen haben konnten, war erschreckend.

Endlich war Kim mit ihrer Geschichte am Ende. »Jetzt weißt du alles«, sagte sie. »Ich bin eine Mörderin, Nicole. Und ich kann nicht einmal etwas dagegen machen.«

»Hast du sonst noch jemandem davon erzählt?« Kim schüttelte mit dem Kopf. »Dann sollten wir das für uns behalten. Wenn dich niemand gesehen hat, wird schon alles wieder ins Lot kommen. So wie sich die Sache anhört, war es ja schließlich reine Notwehr.«

»Aber was, wenn es nochmal passiert? Wenn ich nun wieder jemanden umbringe, ohne es zu wollen? Es hat mich in der Gewalt, Nicky!«

Nicole schwieg einen Augenblick. »Wenn ich ehrlich bin, ich kann immer noch nicht glauben, was du mir da erzählst. Telekinetische Fähigkeiten, davon hört man doch höchstens im Fernsehen. Aber daß ausgerechnet meine beste Freundin ... Ich denke, wenn ich das mit eigenen Augen sehen würde, fiele es mir leichter, es zu akzeptieren.«

»Du glaubst mir nicht, oder?«

»Ich habe keine Ahnung, was ich glauben soll. Ich weiß nur eines, wir brauchen beide etwas Schlaf. Morgen reden wir nochmal darüber, ja? Dann hast du dich beruhigt und ich einen klaren Kopf.«

Kimberly seufzte. »Das wird auch nichts ändern. Vielleicht aber das: Ich weiß, daß du heute die schwarze Unterwäsche angezogen hast, die Tom dir zum Geburtstag geschenkt hat.«

Nicole zuckte mit den Schultern. »Klar, du weißt doch, daß ich die am liebsten trage.«

Ihre Freundin rollte mit den Augen. »Aber verstehe mich doch, das habe ich nicht geraten. Ich weiß es. Ich weiß auch, daß du auf dem Küchentisch einen angefangenen Brief an deine Eltern liegen hast.«

»Ja, das stimmt, aber ich schreibe sehr oft, und du weißt auch, daß ich immer in der Küche schreibe.«

Kimberly sprang wütend auf und fuchtelte mit den Armen herum. »Warum willst du mir denn nicht glauben? Was soll ich denn tun, um es dir zu beweisen? Soll ich dich etwa auch umbringen? Ich dachte, du würdest mir glauben, ich bin doch nicht verrückt!« Kim legte sich die Hände an die Schläfen und mit einem Mal gab es einen lauten Knall. Der Wohnzimmertisch hob sich auf ihrer Seite an und fiel krachend vornüber. Nicole hatte sich gerade noch aus der Gefahrenzone bringen können, damit ihr die schwere Holzplatte nicht auf die Füße fiel. Atemlos stand Kimberly mit blutunterlaufenen Augen da und blickte auf die Unordnung, die sie verursacht hatte. »Nicky, es ... Es tut mir leid, das wollte ich nicht.«

»Das glaube ich dir«, sagte ihre Freundin leise. »Von jetzt an glaube ich dir alles.«

Nicole brachte ihrer Freundin ein paar warme Decken und ein Kissen, damit sie es sich auf der großen ausklappbaren Couch gemütlich machen konnte. Zuerst dachte Kim, daß sie ohnehin nicht schlafen könnte, aber dann fiel sie doch beinahe sofort in tiefe Träume. Ich sorgte dafür, daß sie sich richtig ausschlafen konnte, denn ich wollte, daß sie nicht mehr als jetzt schon unter dem Druck zu leiden hatte. Irgendwie mußte ich die Sache wieder in Ordnung bringen. Doch es schien sich alles meiner Kontrolle zu entziehen. Wieder und wieder starrte ich auf meine Blätter und schüttelte den Kopf.

Als Nicole am nächsten Morgen wach wurde schlief Kim immer noch tief und fest. Es war inzwischen elf Uhr, recht spät wenn man bedachte, daß Nicole gewöhnlich sonntags nur bis neun Uhr im Bett blieb. Aber dies war ja auch kein gewöhnlicher Sonntag, nicht nach dem, was gestern abend geschehen war. Sie ging ins Treppenhaus und holte sich die Tageszeitung, die wie immer unten vor der Tür lag. Wieder oben angekommen, überflog sie die Titelseite, während sie für sich und Kimberly das Frühstück bereitete. Sie war beinahe fertig, als sie den kleinen Artikel entdeckte. Junger Mann tot im Park gefunden lautete die fettgedruckte Überschrift. Nicole ließ ihre Arbeit liegen und las den Text sorgfältig durch. Es war die Rede von einem Mann namens Richard Stroberg. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Man hatte ihn tot auf der Wiese im Park gefunden, die Ärzte vermuteten, er sei an den Folgen einer offenen Gehirnblutung gestorben. Es konnte jedoch niemand eine Erklärung dafür finden, was genau dieses Leiden ausgelöst hatte.

Nun war es sicher, Kim hatte wirklich jemanden getötet. Also war es doch keine Erfindung oder Einbildung. Sie hatte ihr ja gestern abend ziemlich drastisch demonstriert, daß sie tatsächlich über Telekinese verfügte, aber die Sache mit dem Mord hatte sie nicht geglaubt. Bestürzt ließ Nicole sich auf einen der Küchenstühle sinken. Eigentlich hatte sie es nie für möglich gehalten, daß es wirklich wahr sein könnte. Jetzt aber hatte sie den Beweis auf der Hand. Sie ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen und ging eilig ins Wohnzimmer, um ihre Freundin zu wecken. »Kim, wach auf, schnell.«

»Was ist los?« fragte sie verschlafen.

»Ich habe gerade die Zeitung gelesen. Du mußt sofort aus der Stadt verschwinden, Kim. Sie haben Richard gefunden.«

Kimberly war sofort hellwach. »Was? Wo ist die Zeitung.« Sie sprang auf und folgte Nicole in die Küche. Hastig las sie den Artikel durch und legte ihn dann beiseite. »Was mache ich jetzt?« Gehetzt blickte sie sich um. »Wenn mich nun doch jemand mit ihm gesehen hat? Vielleicht suchen sie ja schon nach mir.« Sie lief zurück ins Wohnzimmer, um ihre wenigen Sachen zusammenzusuchen. »Du hast recht, ich muß schleunigst weg hier. Außerdem darf ich dich da nicht mit hineinziehen. Danke, daß ich hier übernachten konnte. Ich gehe dann besser.«

»Wo willst du denn hin?«

Kim zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, weg, raus aus der Stadt, irgendwohin. Mir fällt schon was ein.«

»Solltest du nicht besser Dr. Karls Bescheid sagen? Er weiß bestimmt, was du tun sollst.«

Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das eine so gute Idee ist. Er wird mich wohl auch nicht verstehen, vielleicht warten sie aber auch schon dort auf mich. Das kann ich nicht riskieren.«

Nicole wandte sich zu ihr um. »Ich komme mit.«

»Nein, das darfst du nicht, ich würde dich nur in Gefahr bringen.« Kim war schon an der Haustüre angekommen. »Ich meine, es reicht doch schon, wenn ich Probleme habe.«

»Aber ich lasse meine beste Freundin nicht im Stich, wenn sie mich am nötigsten braucht. Keine Widerrede, Kim. Ich komme mit. Wir können ja mit meinem Wagen fahren. Unterwegs entscheiden wir dann, wo es hingehen soll.«

Kim sah ein, daß Nicole sich nicht umstimmen lassen würde, also gingen sie gemeinsam hinunter. Bald darauf fuhren sie in dem blauen Kadett durch die stillen Straßen, in Richtung der Autobahn. Zuerst einmal wollten sie die Stadt hinter sich lassen. Alles andere verschoben sie auf später, sie würden noch genug Zeit haben, darüber nachzudenken. Nicoles Wagen war nicht der schnellste, aber dennoch fuhren sie die ganze Zeit mit Vollgas auf der linken Spur, nur ab und zu mußten sie anderen Fahrzeugen Platz machen. Erst nach zwei Stunden Fahrt waren sie sich einig, daß sie sich eine kleine Rast gönnen konnten. Am nächsten Parkplatz hielten sie an. Es war niemand außer ihnen da.

Am liebsten hätte ich den beiden gesagt, daß niemand einen Mord vermutete. Man war allgemein der Ansicht, daß der junge Mann einen verschleppten Hirntumor gehabt hatte, der nun aufgebrochen war. Doch sie nahmen mich nicht wahr, obwohl ich ganz in ihrer Nähe war und schrieb. Statt dessen stiegen sie aus und schnappten ein wenig frische Luft. Zu dieser Stunde fuhren nur wenige diesen verlassenen Abschnitt der Autobahn entlang, sie waren also mehr oder weniger ungestört. Schließlich setzten sie sich auf eine der steinernen Bänke und dachten über ihre weiteren Schritte nach.

Sie waren so in ihre Gedanken und die Stille um sich herum versunken, daß sie erschrocken zusammenzuckten, als plötzlich ein schwarzer Wagen auf den Parkplatz gefahren kam. Es war eine prächtige Limousine, ein amerikanisches Modell, wie Kim sofort feststellte. Der Wagen fuhr an ihnen vorbei und hielt einige Meter weiter an. Die beiden Freundinnen tauschten fragende Blicke. Es konnte eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben, niemand wußte, wo sie waren. Also blieben sie sitzen und versuchten, die beiden Männer nicht zu beachten, die gerade ausstiegen. »Kim?« fragte einer der beiden unvermittelt. »Kimberly Parbury?«

»Scheiße, woher kennt der mich?« flüsterte sie ihrer Freundin zu. Nicole konnte nur hilflos mit der Schulter zucken. »Was machen wir jetzt?«

»Wir gehen zum Wagen, denke ich«, sagte Nicole. »So schnell wie möglich.«

Die beiden Mädchen standen auf und machten ein paar Schritte auf Nicoles Auto zu. Aber ein weiterer Ruf des Mannes ließ sie erstarren. »Kim! Nicole! Wo wollt ihr denn hin?«

Kim wandte sich um. »Was wollen Sie von uns? Woher kennen Sie mich?« Kim war sich sicher, sie hatte weder den Sprecher noch den anderen Mann jemals gesehen.

»Wir sind Freunde«, fuhr der Unbekannte fort. »Wir wollen euch nur helfen. Ich habe gehört, daß ihr in Schwierigkeiten seid. Deswegen bin ich hier, ich kann euch da rausholen.«

»Was für Schwierigkeiten?« fragte Nicole. »Verschwinden Sie, wir wollen Ihre Hilfe nicht.« Damit packte sie Kim beim Arm und zog sie hinter sich her. Sie wußte nicht warum, aber die beiden Kerle machten ihr Angst. Irgendwas stimmte nicht mit ihnen, und Nicole war nicht scharf darauf herauszufinden, worum es dabei ging. Kimberly hatte sich jetzt auch umgedreht und beide liefen zum Auto zurück. Wenige Meter bevor sie am Wagen ankamen, wurden sie plötzlich zurückgeschleudert. Es war, als liefen sie gegen eine Wand aus elastischem Material. Benommen richteten sie sich wieder auf und starrten die Männer an. Einer von ihnen hatte die Hände erhoben und blickte sie geradewegs an.

»Nicky! Das ist einer von denen! Dr. Karls hat mir davon erzählt, sie wollen mich!«

»Es freut mich, daß du so schnell begriffen hast«, sagte der Sprecher. »Hoffentlich wirst du auch einsehen, daß ihr keinen anderen Ausweg habt, als zu mir zu kommen. Ich werde euch nicht wehtun, ihr könnt mir vertrauen.«

»Nein! Das könnte Ihnen so passen, was?« Kimberly machte einen Schritt auf die Männer zu. »Mich werden Sie nicht für Ihre Zwecke mißbrauchen.«

Der Mann schüttelte mit dem Kopf. »Begreifst du nicht? Ich habe dich gebeten, aber ich kann dich genausogut zwingen, mir zu gehorchen. Es wäre besser für euch beide, du kommst freiwillig mit.«

»Niemals! Ich bleibe hier, Sie haben mir gar nichts zu befehlen!«

»Wir brauchen dich, Kimberly. Sieh mal, unter Zwang hast du nur den halben Wert für uns, vielleicht sogar gar keinen. Außerdem kann ich nur für die Gesundheit deiner netten Freundin garantieren, wenn du deinen unsinnigen Widerstand aufgibst. Mein Freund hier ist nämlich nicht sehr zimperlich, was die Wahl seiner Mittel angeht.«

Kim zögerte. Sie wollte nicht, daß Nicole etwas zustieß. Doch ihre Freundin stellte sich entschlossen neben sie. »Laß dich nicht beschwatzen«, flüsterte sie. »Keine Angst, mir passiert schon nichts.«

»Also, Kim? Was ist nun. Kommst du zu uns?« Er streckte die Hand zu ihr aus.

Immer noch wartete das Mädchen. Sie wußte nicht, was sie nun machen sollte. Einerseits war es ihr zuwider, ihre Kräfte dieser Vereinigung auszuliefern, andererseits hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was mit Nicole geschah, wenn sie es nicht tat. Zögernd ging sie einen weiteren Schritt voraus, ohne auf die geflüsterten Warnungen ihrer Begleiterin zu achten. »Was wollt ihr also von mir?«

»Komm einfach hierher, und steige in den Wagen. Wir werden dich dann zu uns ins Quartier bringen. Deine Freundin kann dann gehen, wohin sie will.« Er winkte einmal leicht. »Ich kann nicht mehr lange warten, Kleines. Komm schon.«

»Kim, nein!« Nicole legte ihr eine Hand auf die Schulter als sie auf die Männer zuging. »Das ist eine Falle, bestimmt. Glaubst du, sie werden mich laufen lassen?«

»Ich kann dein Leben nicht auf Spiel setzen, Nicky. Nicht schon wieder ein Mord, der auf mein Konto geht. Hab keine Angst um mich, ich komme schon klar.«

Nicole wurde wütend. »Ich glaube nicht, was du da sagst! Du hast doch gar keine Chance! Meinst du, er hat anderes für dich im Sinn als das? Wahrscheinlich wird ein Mord nur das kleinste Übel sein, was er von dir verlangt! Denk doch mal nach, Kim!« Doch plötzlich hob der zweite Mann wieder seine Hände, und Nicole brach mit einem Schmerzenslaut zusammen.

»Laß sie in Ruhe, du Schwein!« brüllte Kim. »Sie hat nichts damit zu tun!« Ihre Kraft ballte sich in ihr zu einem Klumpen zusammen. Voller abgrundtiefem Haß ließ sie die Wellen explodieren, sie schossen aus ihrem Geist heraus und warfen den Mann um. Hilflos lag er am Boden, während sie einen Stoß nach dem anderen aussandte. Seine eigene Kraft wehrte sich gegen den Angriff. Sie spürte Reflexionen ihrer eigenen Impulse, er warf sie zurück. Angestrengt konzentrierte sie ihre Kraft auf einen kleinen Punkt, sie hoffte, damit seine Abwehr durchbrechen zu können. Aber sein Geist war ebenfalls sehr stark. Schon bald spürte sie, wie ihre Kräfte nachließen. Ein schrilles Summen lag in der Luft, es steigerte sich immer weiter, wie das Zirpen von einer Million Grillen bei Sonnenuntergang. Tränen verschleierten Kimberlys Sicht, doch sie hielt ihre Wellen aufrecht. Noch einmal nahm sie allen Haß und ihre Wut zusammen, dann schleuderte sie ihre letzten Reserven den beiden Männern entgegen. Ein übermenschlich lauter Schrei drang aus ihrer Kehle, dann gab es einen furchtbaren Knall. Kim wurde zurückgeschleudert und rücklings auf das harte Straßenpflaster des Rastplatzes geworfen. Eine Sekunde später war wieder alles still. Nur das leise Dröhnen eines Motorrades störte kurzzeitig die Ruhe.

Schnell sammelte ich meine Papiere wieder zusammen. Bei der Explosion waren sie mir vollkommen durcheinandergewirbelt worden, aber ordnen konnte ich sie ja immer noch. Jetzt war erst einmal wichtiger, was mit Kim und Nicole geschehen war. Ich wagte kaum hinzusehen.

Nicole erwachte aus ihrer Benommenheit. Sie lag etwa zwei Meter von Kim entfernt auf dem Boden. Die beiden Männer waren vor ihrem Wagen liegengeblieben. Vorsichtig richtete sie sich auf und eilte zu Kim hinüber, die regungslos auf dem Asphalt lag. Als sie genauer hinsah bemerkte sie, daß ihre Freundin noch atmete. »Kim! Kim, wach auf! Na los, Kleine. Komm zu dir!« Vorsichtig tätschelte sie ihre Wange, aber Kim blieb stumm. »Hey, was soll das? Spiel mir jetzt nichts vor, ja? Ich weiß, daß du lebst! Kimberly! Hörst du mich?«

Endlich kam Bewegung in den kraftlosen Körper ihrer Freundin. Ihre Augen öffneten sich einen Spalt breit, und die grauen Augen versuchten zu erkennen, was um sie herum los war. »Nicky? Bist du das? Ich kann nichts sehen, überall ist es so dunkel.«

»Ja, Kim, ich bin es, Nicole. Wie geht es dir?«

»Es ist alles so leer«, flüsterte sie. »Wir haben es geschafft, nicht wahr?« Kim hustete. »Wir haben es ihnen gezeigt. Sie werden sich wundern, so schnell geben wir nicht auf. Niemals.«

»Kim, was ist mit dir? Kannst du aufstehen?«

Ihre Freundin drehte leicht den Kopf. »Es ist vorbei, meine Kraft ist fort. Nicky, ich versinke! Bitte halt mich fest! Ich versinke!« Sie hob schwach ihre Arme und schlang sie um Nicoles Körper. Das andere Mädchen hielt sie fest, bis Kimberly plötzlich in sich zusammensackte.

»Kim?« Nicole sah ihrer Freundin ins Gesicht, doch sie hatte die Augen wieder geschlossen. »Kim! Oh mein Gott! Kimberly! Wach auf, bitte! KIM!«

*

Immer wieder starrte ich auf diese letzten Zeilen. Das Blatt vor mir war nur bis zur Hälfte beschrieben. Wütend warf ich den Parker-Kugelschreiber in eine Ecke des Zimmers. Es war schon wieder geschehen, ich hatte die Kontrolle verloren. Kimberly Parbury war tot. Es war gekommen, wie es immer geschah. Noch nie hatte ich eine Geschichte geschrieben, in der es ein Happy-End gegeben hatte.

Vielleicht sollte ich das Literaturstudium doch aufgeben, ich kann es nun mal nicht kontrollieren. Wer die Macht hat, muß sie beherrschen können, sonst gibt es meist ein Unglück.

ENDE