Verirrt
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)15.01.1995)

Neugierig betrachtete Daniela die bunt eingewickelten Päckchen, die unter dem reich geschmückten Weihnachtsbaum lagen. Sie versuchte zu erraten, was in den einzelnen, für sie bestimmten Paketen sein mochte, aber die äußeren Formen ließen nichts Spezielles vermuten. Aber sie war sicher, daß es Karsten nicht anders erging. Sie hatte ihm schon oft heimlich dabei zugesehen, wie er mit seinen sanften grauen Augen mehrere Sekunden lang auf diese Stelle starrte. Dies kam allerdings nur vor, wenn er sich unbeobachtet fühlte; er selbst hätte nie zugegeben, wie gespannt er war, doch offensichtlich machte auch er sich seine Gedanken. Bis es endlich soweit war, sollte aber erst noch ein Tag vergehen. Übermorgen abend würden sie dann beide schließlich wissen, was sich wirklich hinter dem farbenfrohen Geschenkpapier verbarg. Heute allerdings war wieder ein langer Tag im Kinderheim angesagt. Daniela riß sich von dem Anblick los und ging in die Küche, um das Frühstück für sich und ihren Mann zu bereiten. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Karsten hinter ihr stehen würde.

»Hast du schon gehört?« fragte Karsten, während er den kleinen Wagen durch die Straßen lenkte. »Wir bekommen heute wieder Zuwachs.«

»Worum geht es?«

Karsten machte ein betroffenes Gesicht. »Ein Familiendrama. Der Junge ist mit einem schlimmen Schock davongekommen. Die Mutter ist tot, und der Vater sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Andere Verwandte konnte man nicht ausfindig machen. Wir sollen uns um den Jungen kümmern. Aber da gibt es ein Problem.« Er blickte Daniela kurz an, die ein fragendes Gesicht machte. »Er spricht nicht. Außerdem scheint er an seiner Umwelt nur wenig interessiert zu sein. Jedenfalls haben ihm die Beamten auf dem Polizeirevier keine Reaktion entlocken können, und auch der Psychologe war machtlos.«

»Und das so kurz vor den Feiertagen«, meinte Daniela leise. »Na, da kommt dann ja wohl noch einiges auf uns zu, nicht wahr?« Sie beide wußten, was ein solcher Fall bedeutete. Die meisten der übrigen Kinder im Heim waren lebhaft, manchmal zu sehr. Da hatte ein Kind, das sich so still verhielt, nur wenig Chancen, beachtet zu werden. Wahrscheinlich mußten sie sogar darauf achten, daß er nicht von den anderen angegriffen wurde, weil sie ihn für zurückgeblieben hielten. Vielleicht würden die Festtage aber auch für eine etwas entspanntere Atmosphäre sorgen. Zumindest die jüngeren der Kinder waren immer begeistert bei der Sache, wenn es um Geschenke ging. Dieses Jahr hatten sie wirklich eine ausreichende Menge an Geld bekommen, um allen eine Freude machen zu können.

Sie bogen in die schmale Zufahrt zum Kinderheim ein. Es standen bereits die beiden Wagen der anderen Betreuer auf dem kleinen Parkplatz, also war der Nachtdienst schon fort. Karsten stellte den Panda ab, und kurz darauf waren sie auch schon auf dem Weg ins Gebäude. Als sie durch die breite Holztür gingen, kam ihnen Werner entgegen. Er trug einen großen Karton in den Armen, aus dem verschiedenste Metallgegenstände herausragten. »Guten Morgen, ihr beiden«, begrüßte er sie.

»Hallo Werner«, erwiderte Daniela. »Na, wieder einmal beim Aufräumen?«

Der ältere Mann stellte seine Last demonstrativ schwer auf dem Boden ab. »Kann man wohl sagen«, meinte er. »Es ist jedes Jahr dasselbe: Immer wieder laufen die Weihnachtsfeiern im Keller ab, jedesmal sage ich den Leuten, daß sie nicht so viel Gerümpel dort hineinstellen sollen, und jedesmal muß ich schon zwei Tage vorher mit dem Ausmisten anfangen, damit wir noch rechtzeitig den Baum aufstellen können.«

Und jedesmal hören wir dieselbe Geschichte, dachte Daniela belustigt, sie behielt diesen Gedanken allerdings wohlweislich für sich. »Dann wollen wir Sie nicht weiter stören«, sagte sie statt dessen und ging mit Karsten durch den Flur zu den Büros, wo sie sich morgens immer mit Iris und Robert trafen. Hinter sich hörten sie noch, wie Werner geräuschvoll seine Arbeit wieder aufnahm.

Nachdem die Standardangelegenheiten erledigt waren, gingen sie zu den Zimmern hinüber. Eines davon war schon für den neuen Bewohner des Heimes vorbereitet worden, es fehlten nur noch das Bettzeug und ein paar andere Kleinigkeiten. Daniela und Karsten machten sich daran, die restlichen Sachen in das Zimmer zu bringen, damit alles bei der Ankunft des Jungen fertig war. Sie ließen sich Zeit, denn man rechnete frühestens am Nachmittag mit dem Wagen vom Krankenhaus. Dennoch waren sie noch vor dem Mittagessen mit ihrer Arbeit fertig. Iris hatte bereits die Töpfe auf dem Herd, und Karsten ging ihr zur Hand, während Daniela mit Robert und zwei der älteren Kinder den großen Tisch deckte. Es war jedesmal ein ganzes Stück Arbeit, das Essen für die acht Bewohner dieses Hauses zu kochen, aber wenn sie die einzelnen Tätigkeiten untereinander aufteilten, war es nicht mehr allzu schlimm. Jeden Tag war ein anderer an der Reihe, den Betreuern dabei zu helfen.

Heute roch es schon lange bevor das Essen fertig war nach Spargel, Falschem Hasen und den dazu passenden Saucen. Als Iris dann die erste der großen Schüsseln in das Eßzimmer trug, war die Aufregung groß. Marina, mit zehn Jahren die jüngste von allen hier wohnenden Kindern, wartete nicht lange, sondern bediente sich ziemlich sofort. Spargel mochte sie sehr gerne, wie sie lautstark verkündete, aber Kartoffeln dafür weniger. Dennoch schob Robert ihr eine kleine Portion auf den Teller, trotz Marinas mißbilligendem Blick. Mit Hilfe der beiden Kinder waren die restlichen Sachen schnell aufgetragen, und endlich konnten sich auch Iris und Karsten an den Tisch setzen.

Während des Essens gingen Daniela viele Gedanken durch den Kopf. Morgen würde es für sie und die anderen Betreuer eine Menge Arbeit geben, denn dann würden sie doppelt eingespannt sein: Der Raum für die Weihnachtsfeier mußte hergerichtet und die Kinder beaufsichtigt werden. Nebenbei gab es noch ein paar Auswertungen zu machen, die natürlich so schnell wie möglich fertig werden sollten. Dazu kam noch, daß Iris freitags in der Berufsschule war. Also ließ sich die Arbeit nur auf drei Leute verteilen. Die Kinder konnten sie nicht dazuholen, da es in jedem Jahr eine andere Überraschung für sie gab. Nicht einmal sie selbst wußte, was es diesmal sein sollte, Robert hatte das zusammen mit Werner arrangiert. Morgen würde sie es erfahren, das war noch immer früh genug. Dann fiel ihr ein, daß sie ja noch eine dritte Aufgabe hatten: Sie mußten sich auch noch um den Neuen kümmern. Daniela hatte keine Ahnung, wie sie das alles gleichzeitig schaffen sollten, aber sie mußten es bewältigen, soviel stand fest.

Ihr Blick fiel wieder auf die Kinder am Tisch. Es war eigentlich immer so gewesen. Es gab immer eine Menge Aufregung, wenn ein Neuzugang angekündigt wurde. Bisher hatte alles mit geringeren Problemen hingehauen. Warum sollte es also diesmal anders sein? Schlimmer als bei Marina konnte es ohnehin nicht werden. Auch eine böse Geschichte, die das kleine dunkelblonde Mädchen erlebt hatte. Bei einer Urlaubsfahrt war ihr Vater am Steuer eingeschlafen und hatte so einen Unfall verursacht, bei dem er und seine Frau ums Leben kamen. Die Kleine wurde mit einem schweren seelischen Trauma in das Heim gebracht. Daniela hatte drei lange Wochen gebraucht, um sie einigermaßen wieder aufzurichten. Jetzt, beinahe ein Jahr nach dem Unfall, war kaum noch etwas von ihrer vorherigen Lethargie zu bemerken. Im Gegenteil: Sie schien immer lebhafter zu werden.

Das Mittagessen war schon eine längere Zeit vorbei, als ein großer Wagen vor dem Eingang hielt. Karsten ging hinaus, um den Fahrer zu begrüßen. Es war ein älterer Mann, etwa fünfzig Jahre alt, mit dunklen, leicht ergrauten Haaren. Karsten kannte ihn schon ziemlich gut. Dr. Kelbach ließ es sich nie nehmen, seine Schützlinge persönlich in ihrer neuen Heimat abzuliefern. Der ältere Mann stieg aus und umrundete den Wagen, um auf die Beifahrerseite zu kommen, an der Karsten schon wartete. »Einen schönen Tag, Doktor«, begrüßte er ihn. Sie schüttelten sich die Hände.

»Na dann wollen wir mal«, sagte Dr. Kelbach und öffnete die Beifahrertür. »So, da wären wir. Hier ist dein neues Zuhause.« Er half dem Jungen aus dem Wagen und schloß die Tür wieder. »Du wirst dich hier bestimmt schnell wohl fühlen, Andreas. Dafür werden wir schon sorgen nicht wahr?« Er blinzelte Karsten zu.

»Aber sicher werden wir das«, sagte Karsten, während sie auf den Eingang zuschlenderten. »Es wird dir gefallen. Außerdem wohnen hier noch viele andere Kinder, mit denen du spielen kannst.« Sie brachten den Jungen in das Gebäude, wo Daniela schon mit den Kindern wartete. Diese Begrüßung gehörte zum festen Bestandteil des Tages, an dem ein neues Mitglied in die »Familie« aufgenommen wurde. Der Reihe nach stellte sie die Kinder vor, aber Andreas schien das alles gar nicht richtig mitzubekommen. Er starrte immer nur geradeaus, beachtete keines der gesprochenen Worte, und auch die Begrüßungen erwiderte er nicht.

»Oh, Mann!« maulte Jürgen, einer der Ältesten. »Nicht schon wieder so ein Stockfisch.« Ein strenger Blick von Dr. Kelbach brachte ihn zum Schweigen.

Da geht es schon los, dachte Daniela. Andreas war kaum ein paar Minuten da, und sie hatten ihn bereits im Visier. »Gehen wir erst einmal nach oben und sehen uns dein Zimmer an, ja?« schlug sie vor. »Karsten holt inzwischen deine Taschen aus dem Wagen.« Gemeinsam mit dem älteren Mann ging sie zur Treppe und führte das schüchterne Kind in das erste Stockwerk, wo sich die Zimmer der Heimkinder befanden. Einer der fünf Räume war noch frei, dort wollten sie den Jungen einquartieren. Mit einer feierlichen Geste öffnete Daniela die Zimmertür. »Das ist es. Hier wirst du ab jetzt wohnen.« Sie betraten das kleine, aber gemütliche Kinderzimmer. Direkt links neben der Tür befand sich das Etagenbett, gegenüber fiel Licht durch ein Fenster herein. An der rechten Wand stand ein Kleiderschrank, auf der anderen Seite ein kleiner Schreibtisch. Daniela wartete, bis Dr. Kelbach im Zimmer war, dann schloß sie die Tür. »So. Hier hast du genug Platz, um dich einzurichten. Normalerweise schlafen immer zwei Mann auf einem Zimmer, aber im Augenblick wirst du hier wohl alleine sein. Dafür kannst du dir aber dein Bett aussuchen. Möchtest du lieber oben oder unten schlafen?«

Andreas antwortete nicht. Er stand immer noch neben ihr, als hätte er sich in der ganzen Zeit überhaupt nicht bewegt. Karsten brach das gespannte Schweigen, als er mit den beiden Reisetaschen bepackt das Zimmer betrat. »Das hier ist schon beinahe alles. Nur noch ein kleiner Karton, dann haben wir's geschafft. Na, und? Wie gefällt dir das Zimmer?« Auch er mußte feststellen, daß Andreas nicht gewillt war, zu antworten. »Also gut. Wer hilft mir beim Einräumen?«

»Ich schicke dir Iris rauf«, sagte Daniela. »Inzwischen werde ich unseren jungen Gast herumführen. Schließlich muß er ja wissen, wo er was findet.« Sie nahm Andreas bei der Hand und verließ mit ihm das Zimmer. Zuerst suchte sie Iris und sagte ihr Bescheid, daß Karsten sie oben im Zimmer brauchte. Dann wandte sie sich wieder Andreas zu und zeigte ihm die Räumlichkeiten im Erdgeschoß: Eine Toilette, die Arbeitsräume der Betreuer und des Hausmeisters, das Sprechzimmer, in dem gelegentlich Sitzungen mit einem Psychologen stattfanden, während der die Kinder den Raum nicht betreten durften, die Küche, den Aufenthaltsraum und das Eßzimmer. Im ersten Stockwerk gab es zwei weitere Toiletten, das große Badezimmer, den Fernsehraum und den Zugang zum Dachboden, auf dem Karsten zusammen mit Werner eine Werkstatt aufgebaut hatte. Die Tür stand offen, also ging sie mit Andreas zusammen hinauf.

»Oh, hallo Daniela«, grüßte der Hausmeister, als er die dunkelblonde Betreuerin hereinkommen sah. »Und auch unser neuer Gast. Wie heißt du denn?«

»Andreas«, antwortete Daniela anstelle des Jungen. »Er ist noch ein wenig schüchtern, aber das wird wohl bald vorbei sein, denke ich. Ich bin gerade dabei, ihm alles zu zeigen.«

»Es wird dir gefallen«, sagte Werner. »Ich bin schon eine ganze Weile hier, und ich habe bisher noch nicht erlebt, daß jemand sich hier nicht wohl gefühlt hat. In den ganzen achtundfünfzig Jahren meines Lebens habe ich nirgends freundlichere Menschen kennengelernt.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Anscheinend mußten im Keller ein paar Leisten der Vertäfelung erneuert werden. Zumindest sägte er an einer solchen Leiste herum und das so schnell, daß die Späne nur so flogen.

Daniela wollte sich umdrehen und wieder nach unten gehen, als sie bemerkte, daß Andreas ihre Hand losgelassen hatte. Verwundert blickte sie umher und sah, wie er sich einem der zahlreichen Tische näherte. Als sie zu ihm hinübergegangen war, bemerkte sie den Grund seiner Aufmerksamkeit. Auf der großen Arbeitsfläche der Werkbank lag eine rechteckige Holzplatte von der Größe eines Zeichenblocks und ein Haufen kleinerer Plättchen, die etwa so groß wie Scrabble-Buchstaben waren. Andreas blieb eine Zeitlang vor dem Tisch stehen, dann nahm er ein paar der Plättchen in die Hand und betrachtete sie. Ab und zu fiel sein Blick auch auf die Holzplatte, deren Oberfläche von einer Matrix aus eingefrästen Rillen durchzogen war.

»Gefällt es dir?« fragte eine dunkle Stimme von hinten. Andreas erschrak und ließ die Plättchen, die er in der Hand hielt, fallen. Daniela bückte sich sofort, um sie aufzuheben, aber Werner kam ihr zuvor. »Laß nur, ich mache das gleich.« Er nahm selbst ein paar der kleinen Holzsteine in die Hand. »Ich hatte eigentlich vorgehabt, einen Setzkasten zu bauen, aber leider habe ich im Augenblick überhaupt keine Zeit dazu. Es gibt noch so viel Wichtigeres zu tun, da muß es noch eine Weile warten.« Noch während er den letzten Satz sprach, wandte Andreas sich um und ging zum Ausgang der Werkstatt. Der Hausmeister blickte Daniela verblüfft an, erhielt aber keine Antwort. Die Betreuerin beeilte sich, den Jungen einzuholen, während Werner kopfschüttelnd die restlichen Plättchen einsammelte. Es schien wirklich noch eine ganze Menge auf sie zuzukommen.

Inzwischen kehrte allerdings erst einmal der gewohnte Alltag ein. Daniela schrieb ihren Bericht und setzte sich dann mit Iris zusammen ins Sprechzimmer, um ihr bei den Aufgaben für die Schule zu helfen. »Wir sollen doch ein Persönlichkeitsbild erstellen«, hatte Iris erklärt. »Ich weiß aber nicht, wie ich so was anstelle.« Daraufhin hatte Daniela den Jungen in Karstens Obhut gegeben und sich mit Iris an die Ausarbeitung gemacht.

Beim Abendessen sorgte Daniela dafür, daß Andreas direkt neben ihr saß. Marina hatte sich an die andere Seite des Jungen gesetzt, anscheinend wollte sie eine neue Freundschaft schließen. Die übrigen Kinder verteilten sich am Tisch und begannen zu essen. Für die Betreuer war es beinahe fühlbar, die Blicke, die verstohlen hinter belegten Brotscheiben und Teetassen hervorlugten, die offen gezeigte Distanz, die jedem Neuankömmling in einer eingespielten Gruppe entgegengebracht wurde und auch die eindeutige Verachtung derjenigen, die weniger Rücksicht übten.

Diese Gefühle begleiteten Daniela und Karsten noch, als sie, vom Nachtdienst abgelöst, nach Hause fuhren. Alles in allem war es noch recht gut ausgegangen. Es würde zwar eine Weile dauern, bis der Junge von den anderen akzeptiert wurde, aber für den ersten Tag war alles ziemlich friedlich verlaufen. Morgen gingen die Vorbereitungen los, da würde es schwierig sein, ihn die ganze Zeit über im Auge zu behalten. Sie mußten sich die Arbeiten gut einteilen, zumindest sollte immer einer von ihnen bei den Kindern sein. Doch das konnten sie erst klären, wenn es soweit war. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln.

Karsten brachte sie schon recht bald auf andere, angenehmere Gedanken. Trotz ihrer ziemlich anstrengenden Arbeit im Heim, wünschten sich die beiden eigene Kinder, und sie ließen auch keine Gelegenheit aus, dieses in die Wege zu leiten.

Ein periodisches Klingeln weckte Daniela am frühen Morgen. Sie blickte noch halb im Schlaf auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, viel zu früh. Karsten lag entspannt neben ihr, sein regelmäßiges Atmen zeigte, daß er immer noch tief und fest schlief. Kein Wunder nach dem, was sie gestern abend angestellt hatten. Sie gewann den Eindruck, daß er jetzt die halben Sachen satt hatte. Zumindest waren sie schon lange Zeit nicht mehr so leidenschaftlich gewesen.

Ihre Gedanken verpufften, als es wieder einmal klingelte. Das Telefon, das hatte sie geweckt. Sie rollte sich herum und zog sich ihren Morgenmantel an, während sie zum Telefon ging. Die Luft im Wohnungsflur war empfindlich kühl, deshalb nahm sie den Apparat mit ins Wohnzimmer, ehe sie abhob. Es war Werner.

»Daniela, Sie müssen sofort herkommen.« Er klang sehr besorgt. »Dieser neue Junge, etwas stimmt nicht mit ihm.«

Daniela war sofort hellwach. »Was? Ist ihm etwas zugestoßen?«

»Nein, das ist es nicht. Ich denke, Sie sollten sich das selber ansehen. Zumindest weiß ich nichts damit anzufangen. Ich hielt es für besser, gleich bei Ihnen anzurufen.«

»Ja, ich verstehe. Karsten und ich werden dann gleich rüberkommen.« Schließlich legte sie auf. Merkwürdige Angelegenheit. Aber wenn wirklich mit Andreas etwas nicht stimmte, mußten sie so schnell es ging dorthin fahren. Sie ging ins Schlafzimmer, um Karsten zu wecken, fand ihn aber aufrecht auf der Bettkante sitzend. »Guten Morgen«, sagte sie. »Ich wollte dich gerade wecken. Wir müssen jetzt gleich losfahren. Werner hat gerade angerufen. Mit dem Jungen scheint etwas nicht in Ordnung zu sein.«

»Mit welchem Jungen?« Karsten fuhr sich mit einer Hand müde durch das braune Haar. »Andreas?«

Daniela nickte. »Los, zieh dich an. Wir müssen uns beeilen.« In der Tat waren sie eine Viertelstunde später bereits auf dem Weg. Über Nacht hatte es stark geregnet, und die Straße war ziemlich unsicher. Dennoch erreichten sie das Kinderheim in weniger als zwanzig Minuten. Kaum hatte Karsten den Wagen geparkt, kam Werner auch schon auf sie zu. Die beiden Betreuer stiegen aus und gingen ihm entgegen. »Was ist denn los?« fragte Daniela. »Wo ist Andreas?«

Der Hausmeister führte sie die Treppe hinauf und dann in seine Werkstatt, wo sie den Jungen auf einer der Werkbänke liegend fanden. Er trug nur einen dünnen Schlafanzug und war trotz der nicht gerade angenehmen Temperatur offensichtlich tief und fest eingeschlafen. Daniela blickte zuerst Werner, dann Karsten an, aber beide waren genauso ratlos wie sie selbst. Dann ging sie mit behutsamen Schritten zu dem Jungen hinüber.

»Ich habe hier schon die Heizung eingeschaltet«, sagte Werner leise, während er und Karsten ihr folgten. »Ich muß wohl gestern abend vergessen haben, die Tür abzusperren. Aber trotzdem verstehe ich nicht, was der Junge hier wollte.«

»Aber ich«, erwiderte Daniela und deutete auf den Tisch, der neben dem schlafenden Jungen stand. »Sehen Sie sich das hier an.« Sie hob ein Holzbrett hoch, auf dem eine Menge kleiner Plättchen in wirrer Formation senkrecht aufgeklebt worden waren. Es sah fast wie ein kleiner Irrgarten aus, es fehlten nur die inneren Wände. Doch dazu wären ohnehin nicht genügend Plättchen vorhanden gewesen.

»Das hat er sich doch schon gestern angesehen. Ich hätte nicht gedacht, daß er so etwas vorgehabt hatte. Anscheinend hat er ein gewisses Talent, was Holz angeht.«

»Trotzdem sollten wir ihn wieder in sein Bett bringen«, meinte Karsten. »Es ist doch sehr kalt hier drinnen.« Er hob den kleinen Körper vorsichtig auf die Arme und trug ihn die Treppe hinunter. Daniela folgte ihm, um die Türen zu öffnen, Werner blieb in der Werkstatt und betrachtete stirnrunzelnd das Holzgebilde und seinen beinahe leeren Leimtopf.

Schließlich verließen Daniela und ihr Mann das Zimmer des Jungen, nachdem sie ihn ins Bett gebracht und zugedeckt hatten. »Was hältst du davon«, fragte sie, während sie die Treppe ins Erdgeschoß hinuntergingen.

»Es scheint, als würde ihn das Holz an irgendwas erinnern«, überlegte Karsten. »Er hat ja ansonsten an nichts Interesse gezeigt. Aber glaubst du, daß Werner wirklich vergessen hat, die Speichertür abzuschließen?«

»Eigentlich nicht, das ist bisher noch nie vorgekommen. Aber wie wäre der Kleine dann in die Werkstatt gelangt, ohne Karl und Rosi aufzuscheuchen? Es muß wohl doch so gewesen sein.«

»Ja, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Egal, bevor wir uns hier in irgendwas verrennen, sollten wir uns ins Büro setzen und erst einmal eine Tasse Kaffee trinken. Dann besprechen wir die Sache noch einmal mit etwas Abstand. Und ich denke, wir sollten auch unseren Nachtwachen Bescheid sagen...«

*

»Vorsichtig anheben, jetzt«, sagte Robert, als er zusammen mit Daniela den endgültig letzten Tisch in den vorbereiteten Kellerraum trug. Sie stellten ihn in einer Reihe zu den vorigen dreien und rückten ihn zurecht. Hier sollte nachher die Musikanlage hin, die schon bereit in einer Ecke des Raumes stand. Die Lautsprecher waren auch schon aufgestellt worden, lange Kabel führten bis an diese drei Tische heran. In diesem Jahr hatten die Betreuer eine Art kleiner Diskothek aufzubauen, mit Musik, Lichtorgeln und sogar Trockeneis als Bodennebel. Dabei sollte der jetzt bereits geschmückte Weihnachtsbaum in der Mitte des Raumes stehen, während um ihn herum die Feier stattfand. Die vertäfelten Wände waren mit Girlanden und anderem Schmuck behangen, die Geschenke lagen gut verpackt unter dem Baum. Daniela konnte die eifrig glitzernden Augen der jüngeren Kinder schon vor sich sehen, sobald die Pakete verteilt wurden, und auch die gespannte Erwartung der älteren. Sie stemmte die Hände in die Hüften, sah sich um und versuchte, sich den Raum vorzustellen, wenn die Feier in vollem Gange war. Karsten würde hinten in der Ecke wohl mehr als genug zu tun haben, er sollte die Getränke ausschenken. Aber für Robert an der Musikanlage und für sie selbst bei den Würstchen und Salaten würde auch genug Arbeit übrigbleiben. Iris sollte währenddessen zwischen den Kindern bleiben und für Ordnung sorgen, falls es nötig würde. Als sie sich so umblickte, bemerkte sie hier und da kleine Löcher in der Vertäfelung. Also hatte sie mit ihrer Vermutung recht gehabt.

Sie brachten noch ein paar Sachen hinein, als Karsten herunterkam, um Daniela abzulösen. »Wie läuft's?« erkundigte er sich.

»Wir sind mit dem Einräumen schon ziemlich weit«, antwortete Robert. »Die Kabel müssen zum Teil noch verlegt werden, der Baum kommt in die Mitte, und die Anlage muß auf den Tisch. Ansonsten eine Menge Kleinkram, aber nicht weiter wild.«

»Und wie sieht's oben aus?« fragte Daniela. Ihre grauen Augen zeigten Sorge.

»Bestens«, sagte Karsten. »Die meisten sind ja sowieso noch in der Schule. Aber warte bis in einer Stunde, dann bekommst du schon noch reichlich zu tun.«

Daniela blickte auf ihre Armbanduhr. »So spät ist es schon?« fragte sie ungläubig. »Dann muß ich ja schon mal das Mittagessen vorbereiten.« Sie zog die dicken Arbeiterhandschuhe aus und gab sie Karsten. »Was ist mit Andreas?«

Karsten zuckte mit den Schultern. »Nichts weiter. Im Moment sitzt er im Fernsehraum.«

Nachdenklich verließ Daniela den Raum, während sich Karsten daran machte, Robert beim Aufstellen der Anlage zu helfen. Im Obergeschoß angekommen, ging sie zuerst in den Fernsehraum. Das Gerät lief mit geringer Lautstärke, und Andreas saß auf einem der Sessel an dem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers. »Andreas?« fragte sie. Der Junge beachtete sie nicht, aber sie trat trotzdem einen Schritt näher. »Ich werde jetzt unten das Essen machen«, sagte sie. »In einer Stunde kommen die anderen aus der Schule, dann muß ich fertig sein. Ich bin in der Küche, wenn du mich brauchst.« Sie wartete einen Augenblick, verließ dann aber das Zimmer. Es behagte ihr gar nicht, den Jungen da oben alleine sitzen zu lassen. Doch das Essen mußte gemacht werden, und hier unten in der Küche oder dem Eßzimmer gab es nichts, um ihn zu beschäftigen. Sie würde einfach regelmäßig hinaufgehen und nach ihm sehen.

Die ersten beiden Töpfe standen auf dem Herd. Heute gab es Nudeln, wie an jedem Freitag. Diesmal hatte Daniela sich die Napoli-Variante ausgesucht und ließ nun erst einmal das Wasser für die Nudeln heiß werden. Inzwischen legte sie ihre Utensilien auf die Arbeitsfläche und machte sich daran, ihrem kleinen Freund im Fernsehraum einen kurzen Besuch abzustatten. Wie sie erwartet hatte, saß er immer noch am selben Fleck. Im Fernsehen lief gerade eine Sendung über die Agrarpolitik in den einzelnen Bundesländern, nicht gerade das richtige Programm für einen Jungen in seinem Alter. Wieder einmal versuchte Daniela, mit Andreas ins Gespräch zu kommen, aber er ignorierte sie weiterhin. Es hatte bisher nichts funktioniert, er zeigte keinerlei Reaktion.

Niedergeschlagen kehrte sie wieder in die Küche zurück. Das Wasser begann gerade zu sieden, also wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kochen zu. Einige Zeit später stand eine Schüssel mit gekochten Nudeln auf dem Tisch, gerade zur rechten Zeit, um die ersten Heimkommenden zu bedienen. In einer halben Stunde würden die nächsten kommen, es blieben ihr also etwa zehn Minuten, in denen sie Pause machen konnte. Sie stellte sicher, daß die drei Kinder mit dem Essen beschäftigt waren und ging wieder in die Küche. In diesem Moment konnte sie gerade noch die Gestalt des Jungen an der Tür vorbeihuschen sehen. Überrascht ging sie hinaus und blickte ihm nach. Er bewegte sich auffällig vorsichtig, als wolle er von niemandem bemerkt werden. Schließlich verschwand er hinter der Tür, die zur Garderobe führte. Verwundert folgte sie ihm. Was wollte der Junge dort?

Durch den Türspalt blickte sie in den schmalen Raum hinein. Andreas wühlte gerade in den Taschen von Werners Arbeitsjacke herum. Dann zog er seine Hand, die etwas umklammert hielt, wieder heraus und wandte sich zum Gehen. Schnell ging Daniela einen Raum weiter und fuhr fort, ihn zu beobachten. Er bog wieder in den Flur ein und hielt auf die Treppe zum Obergeschoß zu.

»Was wird das denn?« fragte eine belustigte Stimme von hinten. »Wird da jemand observiert?«

Erschreckt wirbelte Daniela herum. Werner war gerade von seinem Schreibtisch aufgestanden und näherte sich ihr. Erleichtert atmete sie auf. »Ja, so ähnlich«, antwortete sie. »Andreas, der Neue, scheint wieder was vorzuhaben. Er hat sich etwas aus Ihrer Arbeitsjacke geholt. Ich glaube ich weiß auch schon, was es ist.«

»Er hat was?« Sofort ging er in die Garderobe, um den Inhalt seiner Taschen zu überprüfen. Daniela schloß insgeheim eine Wette ab. »Ich kann den Dachbodenschlüssel nicht finden«, sagte Werner, als er wieder in den Flur kam.

»Das dachte ich mir«, meinte Daniela. »Wir sollten nachsehen, was er dort will.« Sie gingen zur Treppe und stiegen hinauf, bis sie kurz vor dem Obergeschoß waren. Dort machte Daniela ein Zeichen, damit Werner stehen blieb. Leise hörten sie ein metallisches Klicken, und dann wurde eine Tür geöffnet. Daniela wartete noch eine Sekunde, bevor sie endgültig hinaufging. Die Tür zum Dachboden stand halb offen, dahinter waren leichte Schritte auf der Holztreppe zu hören.

Nach einer weiteren kleinen Pause gingen sie in die Werkstatt hinauf. Andreas stand an einem der hinteren Tische und hielt etwas in den Händen. Daniela konnte von hier aus sehen, daß es das Holzgebilde von heute morgen war. Regungslos stand er dort und blickte auf den Gegenstand. Doch plötzlich zuckte er erschreckt zusammen, zog die Holzplatte an sich und wandte sich um. Daniela war sprachlos, denn weder sie noch Werner hatten ein Geräusch gemacht. »Andreas, was machst du hier?«

Die Augen des Jungen blickten von ihr zu Werner und wieder zurück. Offensichtlich fürchtete er sich vor ihnen. Aber warum? Bisher war er lediglich teilnahmslos gewesen, aber auf keinen Fall ängstlich. Behutsam ging sie einen Schritt näher heran. »Was hast du, Andreas? Ich bin es, Daniela.«

Er wich mit langsamen Bewegungen zurück, bis er mit dem Rücken an den Tisch stieß. Immer noch sprangen die Blicke seiner blauen Augen zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Doch unvermittelt gab er seine zurückgezogene Position auf und rannte los. Ehe die beiden reagieren konnten, war der Junge schon zwischen ihnen hindurchgelaufen. »Andreas, so bleib doch stehen!« rief Daniela, als sie abermals die Verfolgung aufnahm. »Was ist nur los mit ihm?«

Er rannte nun den Flur entlang, an den sich die Zimmer der Heimkinder anschlossen. Er war gerade hinter der Tür zu seinem eigenen Zimmer verschwunden, als Daniela den Eingang erreichte. Langsam trat sie ein und fand Andreas oben auf dem Etagenbett sitzend. Das Brett mit den Plättchen hatte er schützend an sich gezogen. »Andreas, beruhige dich. Ich will dir nichts tun.« Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Karsten hinter ihr den Raum betrat. Anscheinend hatte Werner ihn alarmiert. Gar keine so schlechte Idee. »Komm jetzt runter, mein Kleiner«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es ist alles in Ordnung. Keiner wird dir etwas tun.« Langsam streckte sie die Hand aus.

Zuerst rührte sich der Junge nicht, dann aber hob er das Brett mit einer ruckartigen Bewegung hoch und schleuderte es Daniela entgegen. Sie bemerkte die Gefahr, reagierte aber einen Augenblick zu spät. Eine Kante des Holzes traf sie seitlich am Kopf. Ihr wurde schwarz vor Augen. Daß Karsten sie im Fallen auffing, bemerkte sie nicht mehr.

*

Die kleine Nebenstraße des Ortes war voller Leben. Überall rannten kleinere Kinder umher. Es waren Sommerferien, und die meisten der Kleinen nutzen das gute Wetter dazu, draußen herumzutollen. Einige fuhren mit Fahrrädern die Straße auf und ab, während andere sich einen Ball zuwarfen. Ein paar Mädchen übten Seilspringen. Daniela hatte nichts übrig fürs Seilspringen. Sie fuhr lieber mit Thorsten und Jörg, ihren besten Spielkameraden, auf der Straße herum. Dabei bogen sie ab und zu mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in die kleinen Seitenwege ab, die um die einzelnen Häuser herumführten. Als es dann schließlich Abend wurde, verabschiedete sie sich von den beiden andern und fuhr nach Hause. Sie schlug gleich den Weg zur Terrasse hinter dem kleinen Haus ein, da sie wußte, daß ihre Mutter die Tür bei so gutem Wetter offen stehen ließ.

Nachdem sie das Fahrrad neben dem Kellereingang abgestellt hatte, hüpfte sie die drei Stufen zur Terrasse hinauf und betrat das Wohnzimmer durch die, wie erwartet geöffnete, Glastür. Doch plötzlich hörte sie einen lauten Knall, einen Schrei und dann wieder einen Knall. Sie lief durch den Raum und kam ins Schlafzimmer. Ihre Mutter lag weinend auf dem Bett, ihr Vater stand daneben und starrte auf Daniela. »Papa, was tust du?« fragte sie leise.

»Wie oft hab ich dir schon gesagt, daß du nicht einfach so hier reinkommen sollst?« fragte ihr Vater und kam auf sie zu. »Kannst du denn nie hören, wenn ich dir etwas sage? Raus, aber schnell.«

»Papa! Was ist los? Warum weint Mutti?«

»Ich habe gesagt, du sollst rausgehen!« Er stand nun direkt vor ihr. Unsicher wich sie einen Schritt zurück. »Du sollst endlich verschwinden.«

»Aber, Mutti-« begann sie, doch dann sah sie die schwere Hand auf sich zurasen. Wenige Augenblicke später traf sie klatschend in ihrem Gesicht auf.

Daniela schrie und riß die Augen auf. Sie fühlte ein leichtes Kribbeln auf ihrer Wange, das aber sofort verschwand. Völlige Stille war um sie. Verwirrt blickte sie umher, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Sie versuchte sich zu erinnern, was vorgefallen war. Zuerst Andreas, sie hatte ihn bis zu seinem Zimmer verfolgt. Und dann dieser merkwürdige Traum. Sie hatte die beiden Erwachsenen als ihren Vater und ihre Mutter erkannt, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Noch dazu hatte es in ihrem Elternhaus keinen solchen Vorfall gegeben. Und wo war sie jetzt? Anscheinend hatten Karsten und Werner sie an einen ruhigen Ort gebracht, aber warum war es so dunkel? Sie streckte ihre Arme aus und tastete herum. Sie lag auf einem weichen Untergrund, aber ein Bett war es nicht. Vielmehr schien er sich nach allen Richtungen zu erstrecken. Vorsichtig setzte sie sich auf und befühlte den Boden genauer. Er war nachgiebig, irgendwie samtig und vor allen Dingen ziemlich warm. Als sie über die Oberfläche strich, kitzelte es sie, wie die elektrische Ladung eines Fernsehbildschirms. Erschrocken stand sie auf und wandte sich in alle Richtungen, ob sie nicht in der Dunkelheit irgendwo einen Lichtfleck erkennen konnte. Wo hatten sie sie hingebracht? Vorsichtig tastete Daniela sich einen Schritt voraus. Es war etwas ungewohnt, über diesen Boden zu gehen, er schien in sich selbst zu schwanken, wie ein Schiff bei bewegter See. Jedoch rutschten ihre Schuhe nicht, sie konnte sich daher ziemlich sicher fortbewegen. Mit weit ausgestreckten Armen machte sie zögernd einen weiteren Schritt und bemerkte, daß der Boden hier anstieg. Bald schon wurde es so steil, daß sie beinahe senkrecht an dieser sonderbaren Wand lehnte.

»Hallo? Karsten? Bist du da?« rief sie in die Dunkelheit hinein, doch zu ihrer Bestürzung kam nicht einmal ein Echo ihrer Stimme zu ihr zurück. »Was soll das? Wo bin ich hier?« Wieder bekam sie keine Antwort. Verständnislos tastete sie sich auf die andere Seite dieser Mulde. Auch dort stieg der Untergrund erst langsam, dann immer schneller an, bis sie mit den Füßen keinen Halt mehr fand. Also tastete sie sich an dieser Wand entlang voraus. Sie ging sehr langsam und vorsichtig, jeden Schritt prüfte sie vorsichtig, ehe sie den Fuß fest aufsetzte. Stück für Stück gelangte sie vorwärts, ohne zu sehen, wohin sie eigentlich ging. Dann, als sie ein leises Knistern hörte, blieb sie wieder stehen. Es klang wie eine schmorende Sicherung, und es wurde plötzlich lauter. Dann schoß eine gleißend helle Lichtkugel haarscharf an der erschreckten Betreuerin vorbei. Für wenige Augenblicke konnte sie sehen, wie ihre Umgebung beschaffen war. Sie befand sich in einer Art Röhre, langgestreckt und mit einem Durchmesser von etwa vier Metern. Die Kugel verschwand um eine Biegung, und das Strahlen mit ihr. Doch ein wenig Licht blieb, genug Licht für ihre an Dunkelheit gewöhnten Augen. Sie sah den riesigen Schlauch vor sich und holte tief Luft.

Nach ihrem Zeitempfinden ging sie nun schon über eine Stunde immer in dieselbe Richtung. Endlos streckte sich die Röhre unter ihren Füßen aus, immer weiter ging sie vorwärts, einem unbekannten Ziel entgegen. Sie hatte mittlerweile aufgehört, sich über ihren Aufenthaltsort Gedanken zu machen, da sich ohnehin im Augenblick keine Lösung finden würde. In der Zwischenzeit war es um sie herum heller geworden. Ein schummriges Licht schien durch die nachgiebigen und dennoch festen Wände herein. Ein Stück voraus konnte Daniela eine Gabelung sehen: Die Röhre verzweigte sich. Nach links führte ein engerer Schlauch, der sich schon bald hinter der Gabelung um eine Biegung wandte. Der rechte Gang war so breit wie der Hauptgang. Einen Moment lang überlegte sie, dann folgte sie dem rechten Weg, denn hier brauchte sie nicht auf allen vieren zu kriechen. Doch nach einiger Zeit gabelte sich dieser Gang erneut, diesmal jedoch in drei Röhren, die vor ihr wie eine Pyramide angeordnet waren. Sie entschied sich für den linken Gang und ging weiter. Hier mußte sie sich schon bücken, denn die Röhre war nur noch etwa eineinhalb Meter hoch. An dieser Stelle wurden die Wände leicht feucht, wodurch sie immer wieder ins Rutschen kam. Da sie aber vermutete, daß es in den anderen beiden Gängen ähnlich aussehen würde, kämpfte sie sich voran.

Ein Gang endete, zwei neue führten weiter. So war es die ganze Zeit. Je weiter sie ging, desto mehr Verzweigungen kamen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus diesem riesigen und ganz und gar absurden Labyrinth jemals wieder herauskommen sollte. Seit einer Weile mußte sie doch noch kriechen, keine der Röhren war noch hoch genug, um aufrecht in ihr gehen zu können. Verzweiflung ergriff langsam von ihr Besitz. Sie war völlig allein in einer fremden Umgebung, sie war erschöpft, hungrig und durstig. Doch nirgends war ein Ausweg zu erkennen. Hätte sie das Ende der Röhre nur Minuten später erreicht, wäre sie mit Sicherheit vor Angst zusammengebrochen.

Jetzt kroch sie wieder ins Freie. Zumindest waren die Wände nicht mehr direkt um sie herum. Sie befand sich auf einem plattformähnlichen Gebilde aus demselben Material, wie die Röhren. Ein leichtes Sirren lag überall in der Luft, düstere Schemen zeichneten sich um sie herum ab. Vor sich sah sie eine weitere Plattform, die durch eine etwa zwei Meter breite Schlucht von ihrer getrennt war. Was sich am Boden des Abgrundes befand, oder wie tief er war, konnte sie nicht erkennen. Es herrschte einfach nur Schwärze. Sie blickte zurück zu dem Tunnel, aus dem sie gerade herausgekommen war. Nein, nicht wieder in einen dieser Schläuche, dachte sie. Mit ein paar Schritten Anlauf übersprang sie die Kluft und landete auf dem weichen Boden der gegenüberliegenden Plattform.

*

Gegen Abend saß sie vor dem Fernseher und sah sich ihre Lieblingssendung an. Fred und Barney lieferten sich wie immer ein kleines Wortgefecht, das damit endete, daß Barney einen Schlag auf den Kopf und Fred Recht bekam. Ihr Vater saß am Tisch und starrte ebenfalls zum Fernseher. Es kam allerdings kein Lächeln auf sein Gesicht. Je später es wurde, desto grimmiger blickte er umher. Immer wieder schossen seine Blicke zwischen der Uhr und dem Fernseher hin und her. Daniela bemerkte dies kaum, sie wunderte sich nur ein wenig darüber, warum ihre Mutter noch nicht zu Hause war. Normalerweise kam sie immer gegen fünf Uhr heim, doch jetzt war es schon fast acht.

Als dann eine Stunde später endlich das Schloß der Haustüre klapperte, stand ihr Vater sofort auf und kam auf sie zu. »So, du gehst jetzt auf dein Zimmer«, sagte er.

»Warum denn?« wollte Daniela wissen, aber der Blick in seinen Augen brachte sie zum Schweigen. Sie machte einen Schritt nach hinten und rannte dann die Holztreppe zu ihrem Zimmer hinauf. Diesen Blick würde sie niemals vergessen, so voller Wut und sogar Haß. Ängstlich kauerte sie sich neben ihrer Zimmertür hin und spähte die Treppe hinunter ins Erdgeschoß.

Die Wohnungstür klapperte, und ihre Mutter kam herein. Noch bevor sie ihre Sachen abgelegt hatte, kam ihr Mann auf sie zu. »Wo warst du?« fragte er leise. Die Antwort ihrer Mutter konnte Daniela nicht verstehen, aber sie schien ihn zu erzürnen. »Was soll das heißen? Willst du mich für dumm verkaufen?« rief er aus. Er wurde auch nicht leiser, als sie mit beiden Händen eine beruhigende Geste machte. »Ich will es jetzt wissen. Wo warst du?«

»Das geht dich nichts an«, sagte sie plötzlich ungewohnt heftig. »Du hast mich lange genug überwacht, ich will das nicht mehr.« Sie wollte sich abwenden, aber er packte sie am Arm und zog sie zu sich zurück. »Laß mich los«, schrie sie und machte sich von ihm frei. »Faß mich nie wieder an! Ich habe genug von dir und deinen Wutanfällen. Ich lasse mich nicht länger einsperren, hörst du? Ich gehe jetzt meinen eigenen Weg.« Wieder wandte sie sich ab.

»Was soll das heißen? Wohin willst du denn gehen? Du gehörst zu mir, das weißt du!«

Sie lachte auf. »Was? Ich gehöre zu dir? In deinem ganzen Leben nicht! Ich gehöre nur mir allein. Ich habe mein Leben, und ich habe endlich begriffen, daß ich dieses Leben nicht mit dir teilen will. Es wäre das beste für uns beide, wenn du endlich begreifst, daß es zuende ist.«

»Nichts ist zuende.« Er blickte ihr nach, wie sie wieder auf die Wohnungstür zuging. Doch dann machte er einen Sprung nach vorne und zog sie zurück. »Nichts ist zuende! Nicht, solange ich es nicht will, verstehst du?«

»Harald, laß mich los, du tust mir weh!« Sie wand sich in seinem Griff, doch er hielt weiter fest.

»Ich werde dich nicht einfach so gehen lassen. Wir gehören zusammen, verstehst du? Ich will nur wissen, wo du gewesen bist. Sag es mir endlich!« Er begann sie wütend zu schütteln, seine Miene verzerrte sich. »Wo warst du?«

Als sie wieder zu Atem kam, blickte sie ihn rebellisch an. »Ich war bei einem Mann, der mindestens zehn Klassen besser ist als du.« Sie senkte ihre Stimme und sagte noch etwas, das Daniela allerdings nicht verstehen konnte. Unvermittelt holte Harald aus und schlug seiner Frau mit solcher Wucht ins Gesicht, daß sie zu Boden ging.

»Du verdammtes Biest!« schrie er sie an. »Warum hast du mir das angetan?« Sie versuchte, auf die Beine zu kommen, aber ein weiterer Schlag ließ sie wieder zusammensacken.

Jetzt rannte Daniela die Treppe hinunter. »Papa! Nicht! Laß sie in Ruhe, Papa!« Sie klammerte sich an sein Bein und versuchte, ihn von ihrer hilflos am Boden liegenden Mutter wegzuzerren.

»Geh wieder nach oben, sofort!« brüllte er so laut, daß sie erschreckt losließ. »Wird's bald? Verschwinde!« Daniela wich zurück, blieb aber im Zimmer. Ihre Mutter war in der Zeit wieder auf die Beine gekommen. Als sie sah, wie er auf das Kind zuging, griff sie nach dem erstbesten Gegenstand in ihrer Reichweite. Es war der Wanderstab, den Harald gelegentlich bei Spaziergängen mit sich trug. Mit kräftigem Schwung ließ sie das Holz auf den Rücken ihres Mannes niedersausen.

Harald schrie laut vor Schmerzen auf, aber er fiel nicht. »Du Furie!« schrie er und wandte sich um. Mit dem Stock hielt sie ihn auf Distanz. »Wie kannst du es wagen, mich zu bedrohen?«

»Laß das Kind zufrieden, sonst-«

»Was? Wirst du mich schlagen? Laß das Ding los, Regina. Du machst es nur schlimmer.« Harald näherte sich ein Stück, doch sie hielt ihn durch einen kurzen geschwungenen Hieb mit dem Stock auf. Er konnte sich gerade noch außer Reichweite bringen. Dann aber machte er einen Satz auf sie zu und bekam den Stock zu fassen. Wütend schrie sie auf und versuchte, ihm den Stab aus den Händen zu winden, aber gegen die Kraft des Mannes war sie machtlos.

Jetzt stand er vor ihr, den Wanderstab in der gesenkten rechten Hand, den er offensichtlich auch einzusetzen bereit war. »Siehst du es jetzt ein? Gib auf, Regina. Du gehörst mir, und das wird sich nie ändern.«

Einen Moment lang verharrte Regina an ihrer Stelle, aber dann stürzte sie plötzlich an ihm vorbei, und bevor er reagieren konnte, hatte sie die Tür zur Küche hinter sich zugeschlagen. Harald ließ den Stock in der Diele fallen und hastete hinterher. Wie besessen schlug er mit den Fäusten gegen die Tür. »Mach sofort auf!« schrie er. Es kam keine Antwort. Wieder trommelte er gegen das Holz, aber immer noch rührte sich nichts. Dann ging er einen Schritt zurück und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Das schwache Schloß brach sofort auf und die Tür schwang nach innen. Von diesem Zeitpunkt an konnte Daniela nichts mehr erkennen, aber die Geräusche der tobenden Auseinandersetzung hämmerten auf sie ein. Sie duckte sich hinter einen der Sessel und weinte.

Als es dann still wurde, hörte Daniela das Klopfen an der Wohnungstür und die besorgten Fragen eines der Nachbarn. Dann sah sie nur noch das Bild ihres Vaters vor sich, wie er auf der Couch saß und abwesend ein blutiges Messer in seiner Hand herumdrehte.

Das Eintreffen der Polizei, die vielen Menschen, die plötzlich um sie herum waren, all die Fragen, die ihr und den Nachbarn gestellt wurden, all das sah sie nur noch durch einen dunklen Schleier, der immer dichter wurde, bis sie endgültig nichts mehr mitbekam.

Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, lag sie auf dem Boden der Plattform. Alles sah ein wenig verändert aus. Das Licht war intensiver geworden. Sie konnte sich jetzt ungehindert umsehen. Doch was sie sah, als sie aufstand, erschreckte und faszinierte sie zugleich. Erschreckend, weil es so fremdartig war; faszinierend, weil die verschiedenen Formen und Farben sich zu einem überwältigenden Gesamtbild fügten. Vor ihr führte eine Art gewundene Brücke quer durch ein Nichts, von der nach allen Seiten weitere Stränge abgingen. An manchen Stellen gab es auch dickere Knoten dieser Fäden, von der Art wie der, auf dem sie sich im Augenblick befand. Im Großen und Ganzen sah es wie ein abgewickeltes Wollknäuel aus, mit dem eine Katze eine Stunde lang gespielt hatte. Immer wieder blitzten helle Lichtpunkte auf, sie folgten den Bahnen der Fäden, bis sie auf einen dieser Knoten trafen, wo sie sich mit einer kleinen Entladung auflösten. Fasziniert betrachtete Daniela diese fremde Umgebung. Ein unendliches Gewirr aus Wegen, Plattformen, Knoten und Brücken. Es gab nur eine Ausnahme: Unter ihr herrschte tiefste Schwärze. Irgendwie bedrohlich mutete die Dunkelheit an, auch wenn sie nicht verstand, warum. Etwas lauerte dort unten, etwas Grausames, das fühlte sie. Und doch war es nicht wie eine körperliche Gefahr. Es schien einfach durch sein Vorhandensein gefährlich.

Resolut wandte Daniela ihren Blick von der Dunkelheit ab und blickte statt dessen den Weg hinunter, der vor ihr lag. Schulterzuckend ging sie los; was blieb ihr anderes übrig? Sie hielt sich von den ungesicherten Kanten des schmalen Steges fern, während sie vorausblickte. Die Brücken und Wege, die sie gesehen hatte, lagen alle in weiter Ferne. Je weiter sie ging, desto mehr kleinere Fäden tauchten auf, die sich dann ebenfalls zu Röhren oder Brücken entwickelten. Es mußte Milliarden dieser Verbindungen geben, wie sollte sie da jemals irgendwohin gelangen?

Sie beschloß, einfach immer aufwärts zu gehen. Einerseits war dies eine klare Richtung, die sich nicht verfehlen ließ, andererseits hatte sie immer noch Furcht vor dem Dunkel unter sich und wollte es so weit wie möglich hinter sich lassen. Dies hieß aber auch, daß sie sich ab und zu durch eine der engen Röhren zwängen mußte, wenn dies der einzige Weg nach oben war. Während sie unterwegs war, kreisten ihre Gedanken um diese merkwürdigen Erinnerungen, die sie nun schon zwei Mal gehabt hatte. Sie schienen aus ihrem Leben zu kommen, aber die Menschen waren ihr völlig unbekannt. In dem Haus ihrer Kindheit hatte es ganz anders ausgesehen, sie hatten auch keine Treppe gehabt. Sie war in einem Hochhaus aufgewachsen, in einer kleinen Wohnung, die höchstens so groß gewesen war, wie das Wohnzimmer des Hauses aus ihrer Erinnerung. Außerdem schienen die Ereignisse in ihrer Kindheit stattgefunden zu haben, aber dennoch hatte sie noch jede Einzelheit im Gedächtnis. Es schien nicht im mindesten verblaßt.

Während sie grübelte, bemerkte sie beinahe nicht, wie sie ein weiteres Mal auf eine der Plattformen hinaustrat. Sie war nun schon sehr weit oben, nur noch wenige der Fäden und Wege lagen über ihr. Sie bereitete sich auf den Sprung vor, so wie sie es schon einmal getan hatte und überwand den Spalt zwischen den beiden Plattformen.

*

Schuld. Sie war an allem schuld. Hätte sie ihren Vater nicht versucht aufzuhalten, wäre er bestimmt nicht so wütend geworden. Wäre sie in ihrem Zimmer geblieben, so wie er es verlangt hatte, würde ihre Mutter noch leben. Alles wäre anders gekommen. Deshalb würde sie nie wieder eine solche Situation heraufbeschwören. Niemand sollte jemals wieder durch ihre Schuld zu Schaden kommen.

Was sollte das alles? Daniela konnte nicht begreifen, wie sie solche Gedanken haben konnte. Es war ganz eindeutig, daß der Mann, der ihr Vater sein sollte, auch ohne ihr Eingreifen so weit gegangen wäre. Was veranlaßte sie also, solche Sachen zu denken? Vielleicht würde sie auf dem Gipfel die Antwort finden. Sie blickte hinauf zu der nun beinahe greifbaren Plattform. Ein seltsames Leuchten ging von ihr aus, und oben war die Gestalt eines Menschen zu sehen.

Daniela beeilte sich, das letzte Stück zurückzulegen. Sie hatte den Knoten, der alles andere hier überblickte, endlich erreicht. Nun erkannte sie die Gestalt, die gefährlich nahe am Rand der Plattform stand. Es war Andreas. Behutsam, um den Jungen nicht zu erschrecken, näherte sie sich ihm.

Lange bevor sie ihn erreicht hatte, wandte er sich zu ihr um, genau wie in der Werkstatt. »Warum sind Sie hier?« fragte er.

Sie wunderte sich über sein plötzliches Sprechen, doch sie bekam sich schnell wieder in die Gewalt. »Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin«, gab sie zu. »Aber ich möchte gerne wissen, ob du mir sagen kannst, wo wir hier sind.«

»Im Labyrinth«, antwortete der Junge. »Und es gibt keinen Ausweg. Nur den einen, und dort gehe ich nun hin.« Er wandte sich wieder dem Abgrund zu.

Als Daniela die Absicht des Jungen erkannte, machte sie einen schnellen Schritt nach vorn. »Nein, Andreas! Warte. Wir werden den Ausweg schon finden.« Sie mußte an das Grauen denken, das unten in der Dunkelheit lauerte. Was auch immer geschah, er durfte sich dort nicht hineinstürzen. »Warum kommst du nicht mit mir, mein kleiner Freund? Wir werden gemeinsam suchen.«

»Ich bin schon überall gewesen«, erwiderte er leise. »Es gibt hier nichts, was mich noch hält. Alles ist zerstört und das durch meine Schuld.«

»Niemand ist schuldig«, gab Daniela zurück. Sie hatte plötzlich den wahren Grund dieser sonderbaren Erinnerungen herausgefunden. »Besonders nicht du. Es geschah nicht deinetwegen. Wenn du mit mir kommst, werde ich dir erklären, wo die wahre Schuld liegt.«

Andreas wandte sich nicht um. »Nein. Was sollte ich denn jetzt noch tun? Es gibt ohnehin keinen Ausweg, warum sollte ich da mitkommen? Es würde nichts ändern.« Plötzlich drehte er sich herum, als Daniela einen weiteren Schritt gemacht hatte. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, warnte er. »Ich möchte nicht, daß Ihnen auch wegen mir etwas zustößt. Es ist schon genug passiert, es muß nicht noch mehr werden.«

Daniela blieb, wo sie war. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen, oder der Junge wäre für immer verloren. Dort unten lauerte etwas auf ihn, aber sie wollte nicht zulassen, daß es ihn bekam. Sie würde ihn zurückholen, und dann hatten sie alle Zeit der Welt, die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit zu begraben. Sie dachte lange über ihre nächsten Worte nach: »Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?«

Er nickte stumm. »Vater war immer so gemein zu ihr«, sagte er leise. »Ich konnte nichts dagegen tun. Immer hieß es, ich solle mich nicht einmischen, meistens schickte er mich raus. Und dann hörte ich sie weinen, während er immer lauter und lauter schrie!« Seine Stimme war angeschwollen, seine kleinen Hände ballten sich zu Fäusten. »Immer wieder passierte es, immer wieder! Und nie konnte ich ihn aufhalten. Ich habe alles nur schlimmer gemacht.« Daniela konnte hören, daß er weinte. »Jetzt ist es zu spät, ich habe ihn nicht besiegen können.«

»Aber das wirst du noch«, sagte Daniela. »Du wirst noch siegen. Aber dazu mußt du mit mir kommen. Gib deine Selbstvorwürfe auf, sie sind nicht wahr! Nun komm schon!«

Langsam drehte er sich um. »Es tut so weh«, flüsterte er. Daniela nickte und streckte ihre Hand aus.

In diesem Augenblick bewegte sich der Boden und kippte leicht zur Seite. Daniela schrie auf und fiel der Länge nach hin. Auch Andreas lag flach auf dem abschüssigen Boden, gefährlich nahe am Abgrund. »Nein!« schrie Daniela. »Nicht jetzt! Ich hole ihn zurück!« Sie klammerte sich auf dem weichen Boden so gut es ging fest und griff nach dem Jungen. Ihr Arm war nicht lang genug, aber er würde sie erreichen können. »Andreas!« rief sie ihm zu. »Hier, halt dich fest.«

Der Junge schüttelte den Kopf mit zugekniffenen Augen. »Ich kann nicht, ich rutsche ab!«

»Nein! Bitte, du mußt es versuchen! Ich helfe dir, na los!« Immer noch hielt sie den Arm ausgestreckt, sie versuchte, sich weiter hinabzubeugen, aber dann würde sie vollends den Halt verlieren. Andreas bewegte seine Hand millimeterweise über den Abhang. Nur ein kleines Stück, dann würden sich ihre Hände treffen. »Weiter, weiter«, murmelte sie leise. »Gleich hast du's geschafft.« Dann fühlte sie die leichte Berührung seiner Finger und griff kurz entschlossen zu. »Ich hab dich!« sagte sie und hielt sein Handgelenk umklammert. »Kletter jetzt hoch, ich helfe dir.« Mit gemeinsamer Anstrengung schafften sie es, auf die obere Kante der Plattform zu klettern. Andreas schmiegte sich in die Arme der Betreuerin, und sie hielt ihn so fest sie konnte.

»Sie kommt zu sich«, hörte sie eine Stimme aus dem Dunkel. »Karsten! Sie wacht auf.« Als sie schließlich die Augen öffnete, sah sie Werner und ihren Mann, wie sie sich über sie beugten. Sie lag auf einer weichen Matratze, der Raum war hell erleuchtet.

»Wie geht es dir?« fragte Karsten und befühlte sanft ihre Schläfe. »Hast du Schmerzen?«

»Nein, mir dröhnt nur ein wenig der Kopf. Was ist passiert? Wo ist Andreas?« Sie setzte sich vorsichtig auf und begann mit ihren Blicken den Raum abzusuchen.

»Er liegt über dir«, erklärte Werner und deutete auf das obere Bett. »Seit du gestürzt bist, hat er sich nicht mehr geregt.«

Sie stand auf und wandte sich dem Jungen zu. »Andreas. Ich bin es! Wach auf.« Zu Karstens und Werners Überraschung schlug der Junge die Augen auf. »Ich bin wieder bei dir«, sagte sie. »Jetzt werden wir die Vergangenheit besiegen.« Erneut strömten Tränen, diesmal jedoch auch aus Danielas Augen.

Der Junge schlang seine Arme um ihren Hals und umarmte sie. »Es tut mir so leid«, schluchzte er. »Ich wollte das alles nicht.«

»Ich weiß«, sagte Daniela mit leiser, verständnisvoller Stimme. »Aber wir werden das schon wieder hinbekommen.« Und gemeinsam betraten sie erneut das Labyrinth.

Ende