Schwingen
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)25.05.1995)

»Ich hasse Nachtschicht«, brummelte der hagere Mann in Uniform vor sich hin, während er seine Sachen für den Rundgang zusammensuchte. Sein Funkgerät, mit dessen Hilfe er Kontakt zu dem zweiten Wachmann hielt, der mit ihm zusammen das Firmengelände sicherte, fand seinen Platz rechts am Gürtel des Mannes, auf der anderen Seite hing das Holster mit der Pistole. Ralf war bisher immer zufrieden mit seiner Arbeit gewesen, doch die ewige Wechselei zwischen Tag- und Nachtdienst machte ihm allmählich zu schaffen. Zumindest konnte er ab und an frische Luft schnappen, damit er nicht ganz einschlief. Das hatte schon manchem seiner Kollegen den Job gekostet und einen Prozeß beschert - er wollte sich solchen Ärger möglichst ersparen.

Routinemäßig überprüfte er seine Ausrüstung, bevor er sich dann auf den Weg nach draußen machte. »Klaus, ich bin jetzt unterwegs«, sagte er in das Mikrofon des Funkgerätes, während er sich die Taschenlampe vom Tisch nahm.

»Alles klar«, kam gleich darauf die Bestätigung. »Viel Spaß.«

Ralf antwortete nicht. Statt dessen steckte er den Apparat wieder in seine Halterung am Gürtel und öffnete die Tür nach draußen. Wie erwartet war es recht kühl geworden. Laut Kalender sollte es mittlerweile Frühling sein, doch davon war kaum etwas zu spüren. Im Gegenteil; seit ein paar Wochen war die Temperatur tiefer gesunken, als sie es den ganzen Winter hindurch gewesen war. Ralf zog den blauen Mantel, der auf der Brust das Firmenzeichen des Wachdienstes trug, enger um sich und verließ das Wachhäuschen. Das Firmengelände befand sich auf einer weiten Ebene, auf der sich noch einige weitere Unternehmen niedergelassen hatten. In der Entfernung sah er die Lichter der vor kurzem erbauten Forschungsstätte für Pflanzenschutzmittel, rechts daneben dann die Lackfirma. Ein leichter Nieselregen fiel, in dem der Schein der hellen Scheinwerfer bis in den Himmel hinauf sichtbar war. Der nur fingernagelbreite Mond versteckte sich immer wieder hinter rasch dahinziehenden Wolken, die den Niederschlag mit sich brachten. Ab und an wurden auch mal ein paar Sterne sichtbar, die aber schnell wieder verschwanden.

Der kräftige Wind wehte Ralf ins Gesicht, während er seinen Weg fortsetzte. Er passierte gerade das Bürogebäude der Elektronikfirma. Hier waren nur wenige der Fenster erleuchtet. Die meisten der Arbeiter des Werkes, die nachts hier waren, befanden sich am anderen Ende des Geländes, wo die Produktionsmaschinen liefen. Wahrscheinlich hassen sie die Nachtarbeit genauso wie ich, dachte Ralf. Am Zaun angekommen wandte er sich nach links und bewegte sich nun in die Richtung des lauteren Teils der Firma. Kurz vor den Fertigungshallen bog er ab und ging auf die gegenüberliegende Seite des Areals zu. Nach und nach wurde es wieder stiller, bis der Lärm der Maschinen, durch ein weiteres Bürohaus verdeckt, nun kaum noch hörbar war. Nur ein stetig an- und abschwellendes Rauschen lag in der Luft.

Plötzlich hielt Ralf inne und blickte sich um. Er war nun schon lange genug hier um zu wissen, daß dieses Geräusch nicht Teil der normalen Nachtaktivitäten war. Immer wieder pulsierte es in der Luft, als ob der Wind periodisch seine Stärke wechseln würde. Doch das war es nicht; der feine Regen trieb immer noch mit gleichbleibender Geschwindigkeit an ihm vorbei. Ralf knipste die Taschenlampe an und schwenkte den gut sichtbaren Lichtstrahl umher. Alles schien normal, aber das Rauschen wurde dennoch lauter - von Sekunde zu Sekunde. Ralf spürte sein Herz schlagen, ein quälendes Gefühl kroch in ihm hoch, während er sich umblickte, ohne jedoch etwas Ungewöhnliches entdecken zu können.

Kurz erhellte ein Blitz den Himmel hinter ihm. Erschrocken drehte er sich um, aber er sah nichts als schwarze Nacht. Innerlich zählte er die Sekunden und wartete auf den Donner - vergebens. Es blieb still, ausgenommen das unheimliche Rauschen über ihm. Ja, von oben kamen die Geräusche, wie er erstaunt feststellte. Er leuchtete mit der Lampe in den Himmel über sich. Regentropfen fielen in seine Augen und raubten ihm die Sicht. Blinzelnd starrte er in den Regen hinauf, blickte hierhin und dorthin. Unvermittelt wurde der Lichtstrahl von etwas reflektiert. Ralf sah, wie es auf ihn niederstieß, dann wurde er von einem gewaltigen Sog erfaßt und einige Meter fortgeschleudert. Nach dem Aufprall blieb er kurzzeitig benommen liegen, bis er sich wieder aufrappeln konnte. Voller Angst blickte er zum Himmel. Doch das Rauschen war fort.

Wieder ein Blitz, diesmal jedoch deutlich sichtbar. Er war nur ein Punkt inmitten der Schwärze. Aber obwohl er nur wenige Bruchteile einer Sekunde anhielt, konnte Ralf die Umrisse eines riesigen Wesens sehen, das mit atemberaubender Geschwindigkeit über die Ebene fegte.

Er stand noch mehrere Minuten starr auf der Stelle, bis die Kälte ihn in seinem durchweichten Mantel erreichte. Langsam hob er mit zitternder Hand das Funkgerät an seinen Mund. »Klaus? Du wirst nicht glauben, was mir gerade eben passiert ist.«

*

»Kannst du nicht aufpassen, du Penner?« rief Peter dem sich schon entfernenden Autofahrer hinterher, der neben ihm durch eine Pfütze gefahren war. Die schmutzigen Wassertropfen hatten sich nun unregelmäßig auf seiner hellblauen Jeanshose verteilt. Eine Zeit lang versuchte er, die Flecken abzuwischen, gab es dann aber doch auf. »So eine Scheiße aber auch.«

»Komm, jetzt krieg dich wieder ein«, sagte Lars, der mit zwei weiteren Jugendlichen neben ihm stand. »Da kannst du jetzt auch nichts dran machen. Geh halt so mit, das fällt eh' keinem auf, wenn wir erstmal in der Disco sind.«

»Stimmt«, meinte Olaf. »Und außerdem war die Hose nie eine richtige Schönheit.«

»Sehr komisch, ich lach mich tot«, gab Peter gereizt zurück. »Ach, was soll's. Den Idioten krieg ich doch nicht mehr.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

Die vier Jungen aus der zehnten Klasse der städtischen Hauptschule folgten der Straße, die hier leicht bergab führte. Es hatte vor einer halben Stunde noch geregnet, und der Asphalt glänzte feucht. Bis zur Diskothek hatten sie noch etwa zehn Minuten Weg vor sich, den sie eigentlich trocken überstehen wollten. Deshalb beeilten sie sich ein wenig, denn es konnte jederzeit einen neuen Schauer geben.

Einige Zeit später bogen sie von der Hauptstraße ab und gingen nun den sich spiralförmig nach unten windenden Zugang zur Unterführung hinab, durchquerten den kurzen Tunnel unter den Bahnschienen und kamen auf der anderen Seite wieder auf die Straße. Das große Gebäude der ehemaligen Brauerei war von hier aus bereits schemenhaft zu erkennen. Auch das helle Discoschild strahlte zu den vier Jugendlichen herüber. Hier und da waren auch noch andere Leute zu sehen, die in die Richtung des Gebäudes gingen. Das Breakthrough war an Samstagen immer gut besucht, wofür nicht zuletzt auch der ermäßigte Eintrittspreis verantwortlich war. Gut gelaunt schlenderte Lars mit seinen Freunden die Straße entlang und lauschte der nun schon hörbaren Musik. Hier spielte man glücklicherweise keine Techno- oder Trance-Musik, weshalb er gerne hierherkam. Eher waren Hard-Rock und Dance-Grooves angesagt. Was er allerdings vermißte war eine gute Light- oder Lasershow, wie sie im Zone schon zum Standard gehörte.

Ein kleiner Lichtpunkt am Himmel holte ihn kurzzeitig aus seinen Gedanken. Dann war er auch schon wieder verschwunden, nur um wenig später an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Lars blieb stehen, um sich genauer auf den Anblick konzentrieren zu können. Wieder erlosch das Licht und flammte weiter weg von neuem auf. »He, was ist das denn?«

Peter wandte sich um. »Was ist? Willst du da Wurzeln schlagen?«

»Nein, ich hab da nur was gesehen. Sah irgendwie stark aus. Da! Da war es wieder.« Er streckte den Arm aus und zeigte in die Richtung, wo gerade eben erneut ein heller Punkt aufgeblinkt hatte.

»Sieht aus wie 'n Hubschrauber«, meinte Norbert. »Dafür ist er aber ziemlich fix. Siehst du? Jetzt ist er schon da drüben.«

Lars schüttelte den Kopf. »So schnell sind die nicht. Das müssen mindestens zwei oder drei von den Teilen sein. Wer weiß, vielleicht sind das Polizeihubschrauber, die jemanden suchen.«

»Dann laß und schnell verschwinden«, meinte Olaf. »Ich will nicht, daß man mich erkennt.« Die vier brachen in schallendes Gelächter aus. Dann schlug Olaf Lars die Hand auf die Schulter. »Reiß dich los, sonst haben wir gleich wieder 'ne Riesenschlange am Eingang. Wenn es was Interessantes da oben gibt, steht's morgen auch in der Zeitung.«

»Ja, ich komme schon«, meinte Lars abwesend. Schließlich wandte er sich von den Punkten ab und folgte seinen Klassenkameraden, die bereits weiter auf die Disco zugingen. Hubschrauber. Möglich, aber für ihn hatten die Punkte noch etwas anderes an sich, das er aber nicht genauer bestimmen konnte.

*

Ein ganzer Haufen flimmernder Objekte bewegte sich scheinbar ziellos hin und her, um sich am oberen Rand des sichtbaren Bereiches neu in regelmäßigen Gruppen zu formieren. Weiter unten flog das kleine Raumschiff und versuchte, der Lage Herr zu werden. Seit Holger das Spiel Hyper Galaxions auf seinem Computer hatte verging kaum ein Tag, an dem er nicht mindestens ein oder zwei Spiele machte. Immer wieder startete er seine Mission von neuem, nur um einen höheren Platz in der Bestenliste zu erreichen. Diesmal allerdings mußte er schon nach der dreizehnten Ebene klein beigeben. Etwas verärgert trug er seinen Namen ein und beendete das Spiel.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür seines Zimmers. »Wir fahren jetzt«, kündigte seine Mutter an. »Es wird wohl etwas später werden. Also, mach keinen Krach, und geh zeitig ins Bett, klar?«

»Klar.« Holger winkte ihr kurz zum Abschied, dann schloß sich die Tür. Er lauschte, bis er das Zuschlagen der Wohnungstür hörte. Seine Eltern waren unterwegs, und sein großer Bruder hatte auch angekündigt, daß man nicht vor ein oder zwei Uhr mit ihm zu rechnen brauchte. Wenn man bedachte, daß es gerade halb neun war, hatte er also etwa drei bis vier Stunden für sich alleine.

Eigentlich war Holger ein Junge wie jeder andere Neunjährige. Er war mittelgroß, hatte dunkelblonde Haare und strahlende, graue Augen. Es gab nur eine Sache, die ihn von vielen seiner Altersgenossen unterschied: Er genoß es, alleine zu sein. Natürlich nicht immer. Aber manchmal ging ihm sogar die Anwesenheit seiner Eltern auf die Nerven, selbst wenn sie nicht direkt in seinem Zimmer waren. Er nutzte daher jede Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Die leider nur zu seltenen Gelegenheiten wie heute, daß er für eine gewisse Zeit völlig ungestört sein würde, kostete er voll aus. Wie schon ein paar Mal zuvor packte er auch jetzt seinen kleinen Rucksack zusammen und verließ das Holzhaus am Stadtrand, nur etwa fünf Minuten nachdem seine Eltern gegangen waren.

Auch heute ging ihm der Gedanke durch den Kopf, was sein Vater und seine Mutter wohl sagen würden, wenn sie von seinen Ausflügen wüßten. Noch dazu wenn sie ahnten, wohin er ging. Er hatte nie begriffen, warum die Erwachsenen immer einen solchen Aufstand machten. Ob man nun tagsüber oder nachts im Wald war; es war immer derselbe Ort, oder etwa nicht? Es war sogar schöner, nach Einbruch der Dunkelheit zwischen den Bäumen hindurchzuwandern, als bei hellem Tageslicht. Besonders aus dem Grunde, da man kaum gestört wurde - weder von Autos, noch von anderen Waldwanderern.

Noch war es nicht richtig dunkel. Die Sonne hatte den Himmel zwar schon verlassen, aber im Westen erhellte noch ein heller Schein die niederrheinische Kleinstadt. Holger schlug den Weg zwischen den Feldern hindurch ein, um zu seinem Ziel zu gelangen. Während er umherwanderte summte er eine kleine Melodie vor sich hin, die gut zu seinem Tempo paßte. Der Waldrand rückte beständig näher, und bald schon trat er in die Schwärze zwischen den Bäumen.

Er hatte seinen Lieblingsplatz schnell erreicht und setzte sich auf den morschen Baumstumpf, der hier zu seinem Stammsitz geworden war. Vor sich konnte er das Feld sehen, wie es sich in einigen Metern Entfernung ausbreitete. Hier saß er immer und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit. Ein paar Hasen hoppelten quer über die grüne Fläche und ließen sich hier und da nieder, um ein wenig zu fressen. Gelegentlich hatte er sogar schon einmal ein Reh gesehen, das sich aus dem Wald auf das Feld vorgewagt hatte. Doch meistens waren es höchstens Kaninchen oder ähnliches Kleingetier, das sich ihm hier zeigte.

Nein, um nichts in der Welt wollte er diese Momente der völligen Abgeschiedenheit hergeben. Endlich weg von all der Hektik zu Hause, von den Regeln, dem Geschimpfe und den Prügeln... Mehr als einmal hatte er schon daran gedacht, gar nicht mehr zurückzugehen. Warum sollte er nicht einfach hierbleiben und nur noch das tun, wozu er Lust hatte? Aber dann würden sie ihn suchen, das war sicher. Und sobald sie ihn fanden, würde er garantiert die Abreibung seines Lebens bekommen. Wenn er an das angestrengte Gesicht seines Vaters und den zu erwartenden Weinkrampf seiner Mutter dachte, gab er den Gedanken immer wieder schnell auf.

Holger erschauderte. Ein kühler Windzug blies ihm ins Gesicht, als wolle er seine Gedanken noch verstärken. Mittlerweile war es so dunkel geworden, daß er die Tiere auf dem Feld nur noch als schwache, dunkle Punkte wahrnehmen konnte. Doch plötzlich stoben sie auseinander, jedes in eine eigene Richtung, und die Fläche vor ihm war wie leergefegt. Der Junge fragte sich, was diese unvermittelte Flucht ausgelöst haben mochte. Er hatte weder etwas gehört noch gesehen. Dann aber bemerkte er einen Lichtschein, der Schatten der Bäume auf das Feld zeichnete. Das Licht mußte von hinten kommen - und von oben. Dann war es wieder fort. Verwundert drehte Holger den Kopf in alle Richtungen und stand auf. Ein weiterer kühler Windhauch erfaßte seine Jacke und ließ sie leise flattern. Es lag ein Geruch nach abgebrannten Streichhölzern in der Luft. Dann vernahm er ein Singen, wie man es auch dann hören kann, wenn ein Segelflugzeug nahe über dem Boden hinweggleitet. Eine kurze Zeit wurde der Himmel von einem großen Ding verdeckt, das über den Bäumen auf das Feld zuschwebte. Holger konnte seinen Augen nicht trauen, als er das riesige Wesen sah, wie es in geringer Höhe das Feld überquerte. Die Flügel waren voll ausgespannt und erzeugten das Geräusch, das er schon vorher gehört hatte. Seine Überraschung wurde noch größer, als das Ungetüm plötzlich mit kräftigen Schlägen abhob und eine grelle Stichflamme sein Maul verließ. Wenige Augenblicke darauf war es auch schon wieder im Dunkel verschwunden.

Vor dem Wald und sei es auch mitten in der Nacht hatte Holger nie Angst gehabt. Aber das, was er gerade miterlebt hatte, jagte ihm doch einen gehörigen Schrecken in die Glieder. Schnell packte er seinen Rucksack und hastete zurück, den Pfad entlang, auf dem er gekommen war. Doch als er am Waldrand angekommen war, wußte er nicht so recht, ob er den Weg über die freie Feldlandschaft wirklich antreten sollte. Im Wald war er wenigstens nicht zu sehen. Doch irgendwie war ihm selbst diese vertraute Umgebung im Moment nicht ganz geheuer. Also machte er sich auf den Weg zurück nach Hause, immer mit dem Blick in alle Richtungen.

Der zweite Schreck in dieser Nacht durchfuhr ihn, als er das Licht im oberen Stockwerk des Hauses sah. Waren seine Eltern doch früher als geplant zurückgekommen? Und wenn sie bemerkt hatten, daß er nicht da war? Doch in der Garageneinfahrt stand kein schwarzer Astra, also konnte es allenfalls sein Bruder sein. Das war weniger schlimm, wenn auch nicht gerade ideal. Trotzdem, besser eine Standpauke, als von diesem Wesen doch noch erwischt zu werden. Holger öffnete die Haustür, schlüpfte hinein und schloß den Eingang erleichtert hinter sich. Mit dem Rücken an das Holz gelehnt wartete er erst ein paar Sekunden, bevor er sich auf den Weg hinauf in sein Zimmer machte. Dort setzte er seinen Rucksack ab und warf sich aufs Bett. Nur wenige Augenblicke später kam Lars herein. »Du warst wieder draußen?« fragte er.

Holger erschrak. »Wieso wieder?«

»Na hör mal. Denkst du, ich hätte nicht mitbekommen, was du seit einiger Zeit anstellst? Du hältst mich wohl für ganz blöd. Ich weiß zwar nicht, warum du das tust, aber ich bin sicher, daß es noch Ärger geben wird.«

»Du sagst es ihnen?«

Lars schüttelte den Kopf. »Ich bestimmt nicht. Aber wenn du weiter so einen Blödsinn machst, kommen sie mit Sicherheit noch selbst dahinter. Da brauche ich gar nichts zu sagen.« Er betrachtete seinen kleinen Bruder. »Ist unterwegs irgendwas passiert?«

Wieder war Holger verdutzt. »Warum fragst du?«

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Außerdem schienst du es ziemlich eilig zu haben, als du zurückgekommen bist. Ich habe dich schon oben an der Ecke gesehen.«

»Das würdest du mir sowieso nicht glauben«, meinte Holger.

»Sag's mir trotzdem«, meinte Lars. »Ich bin heute abend einfach unheimlich neugierig.« Er setzte sich auf den Drehstuhl und wartete ab.

Holger zögerte zuerst, setzte dann aber zum Sprechen an: »Ich habe einen Drachen gesehen. Er ist draußen im Wald über die Wiese geflogen und hat Feuer gespuckt. Deshalb bin ich so schnell zurückgekommen. Ich hatte Angst, daß er mir hinterherfliegen würde.«

Lars sah aus, als wolle er laut loslachen, doch er beherrschte sich. »Stimmt, ich glaube dir nicht.«

»Aber es ist trotzdem wahr«, beharrte der Junge. »Ich habe ihn gesehen und die Kaninchen auf dem Feld auch. Er ist über den Wald geflogen und hat Feuer gespuckt. Meine Jacke riecht jetzt noch danach. Hier, steck mal deine Nase rein.« Er warf Lars das Kleidungsstück zu.

In der Tat, der Stoff roch ein wenig nach Schwefel. Doch Lars legte die Jacke ärgerlich beiseite. »Weißt du nicht, daß man im Wald nicht mit Streichhölzern spielen soll? Wo hast du die Packung?«

Holger verdrehte die Augen. »So 'n Quatsch! Ich habe keine Streichhölzer! Das war der Drache, das hab' ich dir doch gesagt. Außerdem weiß ich sehr wohl, daß man das nicht darf. Ich bin ja schließlich nicht von gestern.«

»Anscheinend doch, wenn du meinst, du könntest mir eine solche Geschichte verkaufen. Du willst doch bloß etwas verheimlichen. Ich verstehe nur nicht, warum du mit einer so dämlichen Ausrede daherkommst, statt dir was Besseres einfallen zu lassen.« Lars sah seinen kleinen Bruder eindringlich an. »Hör zu. Ich werde Papa und Mutter nichts sagen, wenn du mir versprichst, nicht mehr um diese Zeit alleine im Wald herumzuschleichen. Klar?«

Holger nickte zögernd. Was sollte er anderes machen. »Aber ich habe trotzdem nicht gelogen«, erklärte er.

»Schon gut. Vergessen wir's, okay?«

»Okay«, sagte Holger niedergeschlagen und wandte sich mit trauriger Miene von seinem Bruder ab. »Vergessen wir's.«

Lars verließ das Zimmer, während der kleinere Junge betrübt aus dem Fenster sah. Er war erleichtert, daß ihm nichts zugestoßen war. Wenn er an seine eigene Zeit als Neunjähriger zurückdachte, wäre es ihm kaum in den Sinn gekommen, nachts ohne Begleitung hinauszugehen, geschweige denn in den Wald. Er wußte nicht, was ihn mehr verwunderte: der Mut des Kleinen, oder seine eigene Sorge um ihn. Klar, er war immerhin sein Bruder. Aber trotzdem hatten sie nie ein besonders enges Verhältnis zueinander gehabt. Der Altersunterschied war einfach zu groß, um viele Gemeinsamkeiten zu schaffen. Wenn Lars abends in der Disco war und sich mit seinen Freunden amüsierte, saß Holger alleine in seinem Zimmer und spielte irgendwelche Computergames. Freunde hatte er nur wenige; eigentlich auch kein Wunder, wenn man bedachte, daß er nie jemanden mit nach Hause bringen durfte und sie ihn deshalb hänselten. Vater wurde dann meistens sauer, wenn es etwas lauter in Holgers Zimmer wurde. Wie das schließlich immer endete wußte Lars gut genug. Sein Vater war ein erfolgreicher Mann in seinem Beruf. Er betreute eine ganze Reihe von kleineren Abteilungen innerhalb des Pharma-Betriebes, in dem er arbeitete. Da kam es schon mal vor besser gesagt, es war zur Regel geworden daß er erst um sieben oder acht Uhr nach Hause kam. Selbst an Samstagen und gelegentlich auch sonntags war er für die Firma unterwegs. Sicher, ohne seinen Einsatz würden sie jetzt nicht dieses schmucke Haus in der besten Gegend der Kleinstadt besitzen, aber das ging alles natürlich auf Kosten der Familie.

»Lars! Komm schnell, und sieh dir das an!« Holgers Ruf holte ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um und blickte zu der halb angelehnten Zimmertür zurück, aus der jetzt ein erneuter Ruf kam. »Er ist wieder da! Komm her, schnell!«

Lars ging verwundert wieder in das Zimmer seines Bruders zurück. Aufgeregt deutete Holger aus dem Fenster und forderte ihn auf, ebenfalls hinauszusehen. Draußen erblickte er das normale nächtliche Bild des Gartens. Rund um das Grundstück herum zog sich eine hohe Hecke, hinter der das Land sanft abfiel. In einiger Entfernung war der Ortskern zu sehen, dessen Lichter sich hell gegen den dunklen Boden abhoben. Darüber war schwarzer Himmel, wolkenverhangen und düster. Dort, wo sich die dünne Sichel des Mondes befand, schimmerte ein hellerer Fleck im Dunkel. Ansonsten gab es nichts. »Ja, und?« fragte er ein wenig verstimmt. »Was gibt es da so Aufregendes, daß du gleich die ganze Nachbarschaft zusammentrommelst?«

»Gerade eben war er noch da, ich schwöre es! Er ist dort drüben über dem Feld gewesen.«

Lars sah immer noch aus dem Fenster. »Ich sehe aber nichts«, erwiderte Lars. »Ich würde sagen, daß du endlich...« Plötzlich fuhr er mit einem Schreckensschrei zurück, als etwas Riesiges am Fenster vorbeirauschte. Dann war es wieder verschwunden. Nur wenige Augenblicke darauf tauchte ein gigantisches Auge auf, das ins Zimmer hineinstarrte. Holger hielt sich an seinem großen Bruder fest, der mindestens genauso verängstigt war. »Was ist das?« stammelte Lars und machte einen Schritt zurück.

»Ich habe dir doch gesagt, ich habe einen Drachen gesehen. Vorhin war ich aber noch weiter weg.«

»Da wäre ich jetzt auch lieber. Scheiße, nein! Ein Drache. Ich glaub's nicht.« Jetzt fielen ihm die Punkte ein, die er vorhin auf dem Weg zur Disco gesehen hatte. Sie waren ihm gleich etwas merkwürdig vorgekommen, aber etwas Derartiges hätte er niemals vermutet.

»Vielleicht hat er mich vorhin im Wald schon gesehen und sucht nach mir!« Holger versuchte sich hinter seinem großen Bruder zu verstecken. »Siehst du wie er mich anstarrt?«

»Komm, wir verschwinden«, flüsterte Lars und zog den kleinen Jungen mit sich zur Zimmertür hinaus. »Wir gehen runter in den Keller und bleiben da, bis das Vieh weg ist. Wer weiß, was es überhaupt hier will.«

Langsam verließen sie den Raum und rannten dann nebeneinander die Treppe hinunter, die in den Wohnungsflur führte. Dann waren sie auch schon im Keller angekommen, wo sie schließlich keuchend stehenblieben, um Atem zu holen. Durch eines der feinmaschigen Kellergitter beobachteten sie den Nachthimmel.

»Was, wenn Papa und Mutti nach Hause kommen?« fragte Holger.

»Hoffen wir, daß das Monstrum dann schon weg ist, sonst sind sie auch in Schwierigkeiten«, murmelte Lars. Irgendwie konnte er immer noch nicht begreifen, wovor er da gerade eben geflüchtet war. Drachen gab es nicht, jedenfalls hatte man noch nie einen gesehen. Wo kam er also her? Oder war das alles nur Einbildung? Vielleicht ein Werbegag für Spielzeug? Aber Holger hatte ihm schon vorher gesagt, er hätte einen Drachen gesehen, der sogar Feuer gespien hätte. Und er selbst hatte mindestens drei von dieser Sorte am Himmel gesehen, ohne überhaupt zu ahnen, was er da eigentlich erblickte.

Der Himmel über dem vergitterten Fenster blieb dunkel und verhangen. Hier unten im Keller war die Kälte des Abends beinahe ungehemmt zu spüren. Dennoch wagten sie sich nicht in das Erdgeschoß hinauf, denn dort gab es riesige Fenster, durch die sie allzuleicht gesehen werden konnten. Es mochte sein, daß der Drache seinem Bruder nur aus purem Zufall zweimal begegnet war, aber das konnte man nicht genau wissen. Außerdem - wer sagte denn, daß es derselbe Drache war? Hatte er nicht selbst mehr als einen gesehen?

Die Stille draußen wurde durch ein anschwellendes Rauschen gebrochen. Wenige Augenblicke danach tauchte ein dunkler Schatten über dem Haus auf, der sich rasch in den Garten hinuntersenkte. Ein greller Lichtschein, erzeugt durch die ausgeatmete Flamme des Riesenwesens zeichnete ein gelb-rotes Trapez auf den grauen Kellerboden. In diesem Moment war der Drache in seiner vollen Gestalt zu sehen, und der Anblick diente nicht gerade dazu, ihre Angst zu dämpfen. Er war gut und gerne fünfzehn Meter lang, seine ausgespannten Schwingen überdeckten den Garten zur Hälfte, und die Augen, die so groß wie Autofelgen waren, blickten suchend. Im Licht der Hintertürleuchte, die durch den Bewegungsmelder eingeschaltet worden war, konnten sie seine rot schimmernden Schuppen sehen, die beinahe den gesamten Körper bedeckten. Lars und Holger versuchten keinen Mucks von sich zu geben, aber dann beugte der Drache seinen langen Hals herum, bis die großen Nüstern genau vor dem Gitter verharrten.

*

»Wie spät ist es?« fragte Ludwig seinen Kollegen, während er den Wagen durch die stillen Straßen fuhr. Manchmal fragte er sich, ob sein Job überhaupt Sinn machte, denn hier geschah nahezu nie etwas.

»Viertel vor zwölf«, teilte ihm der etwas korpulente Mann auf dem Beifahrersitz mit. »Genau eine Viertelstunde später als gerade eben. Hast du's irgendwie eilig?«

»Nein. Ich habe mich nur gefragt, warum heute die Nacht einfach nicht rumgehen will.«

»Sei doch froh, daß es so ruhig ist«, erwiderte Hans. »Dann gibt's wenigstens nicht zuviel Schreibkram wenn wir wieder zurück auf der Wache sind. Das ist mir jedenfalls immer wieder ein Greuel. Besonders, wenn die dann auch noch einen persönlichen Bericht haben wollen.«

Ludwig dachte genauso. Aber dennoch wünschte er sich manchmal, es gäbe mehr zu erledigen als nur hier und da einmal einen zu schnell fahrenden PKW anzuhalten oder Verkehrskontrollen durchzuführen. Natürlich ging es ihm nicht um viel Action, er war im Gegenteil sogar froh darüber, daß er seine Dienstwaffe bisher nur selten aus dem Holster hatte ziehen müssen.

Der Streifenwagen bog in die lange Landstraße ein, die mitten durch ein neu entstandenes Industriegebiet führte. Gerade diese Strecken waren es, die ihn immer wieder an die Eintönigkeit seiner Arbeit erinnerten - waren sie doch ebenso lang und uninteressant. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich eine flache Grasebene. Die Lichter der Werksgebäude strahlten wie zu Boden gefallene Sterne aus der Dunkelheit zu den beiden Beamten herüber. Hin und wieder entfernte der Scheibenwischer die Spuren des stetig fallenden Nieselregens von der Windschutzscheibe. Noch ein Punkt, der die heutige Streife nicht gerade angenehmer machte.

Im Kegel des Scheinwerfers tauchte eine Gestalt vor ihnen auf der Straße auf, die wild mit ihren Armen wedelte und auf sie zugerannt kam. Ludwig sah seinen Kollegen fragend an, während er die Geschwindigkeit drosselte. Der Mann draußen trug eine Uniform, Dienstmütze und einen dunklen Mantel, auf dem man das Zeichen einer Wachgesellschaft erkennen konnte. Als der Wagen schließlich zum Stehen gekommen war, klopfte der Mann schon an die Scheibe der Fahrertür. Ludwig kurbelte das Fenster herunter und erschauderte erst einmal wegen der kalten Luft, die die angenehme Wärme des Innenraumes schnell vertrieb. »Können wir Ihnen helfen?«

»Mein Gott, was bin ich froh, Sie zu sehen«, sprudelte der Uniformierte hervor. »Sie müssen schnell mitkommen, auf dem Firmengelände geht etwas Unheimliches vor sich.«

»Auf welchem Gelände?«

Der Mann deutete auf seinen Mantel. »Ich bin Wachmann beim PARTEC-Werk, gleich hier vorne. Ich wurde vor ein paar Minuten angegriffen.«

»Warum haben Sie dann nicht in der Notrufzentrale angerufen, damit jemand hierhergeschickt wird?«

»Das wollte ich ja, aber weder der Beamte dort, noch mein Kollege wollten mir glauben als ich ihnen erzählte, was geschehen ist. Aber ich schwöre, daß jedes Wort wahr ist. Kommen Sie, bitte!«

»Worum handelt es sich?« fragte Hans, da er nicht wußte, ob sie für einen Fall wie diesen richtig ausgerüstet waren. Anscheinend hatte irgendetwas den Mann vollends außer Fassung gebracht.

»Das ist doch jetzt egal«, sagte der Mann etwas hektisch. »Es ist sowieso schon über alle Berge. Aber ich fürchte, daß es zurückkommen wird. Wir müssen uns beeilen, mein Kollege ist noch immer dort, weil er mir nicht glauben will.«

»Wir werden nirgendwohin fahren, solange Sie uns nicht sagen, was los ist. Sie wissen doch hoffentlich, daß Sie ansonsten mit einer Anzeige zu rechnen haben.«

»Sie werden mir auch nicht glauben. Aber wenn Sie wirklich unsere Zeit verschwenden wollen, erkläre ich es Ihnen.« Er hielt einen Moment inne, als würde er sich die richtigen Worte zurechtlegen. »Ich bin vor gut zwanzig Minuten von einem feuerspeienden Drachen attackiert worden.«

»Sie sind was?« fragten die beiden Polizisten im Chor.

»Genau aus diesem Grund wollte ich es Ihnen erst erklären, wenn wir am Werk angekommen sind«, sagte der Mann verzweifelt. »Es ist wirklich so gewesen, ich kann es beschwören. Wir müssen zurück und meinen Kollegen da herausholen, bevor er tatsächlich noch zurückkommt. Die Menschen der Stadt müssen gewarnt werden.«

»Was meinst du?« fragte Hans seinen Kollegen und machte eine Handbewegung.

Ludwig nickte. »Das denke ich auch.« Er wandte sich dem Wachmann zu. »In Ordnung. Steigen Sie ein, wir fahren los.«

»Na endlich. Es wurde auch Zeit, daß jemand etwas unternimmt.« Er öffnete die linke Hintertür des Streifenwagens und stieg ein.

Ludwig fuhr ein Stück, wendete dann und folgte schließlich der Straße wieder in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Was soll das denn jetzt?« fragte der Mann auf dem Rücksitz. »Die Firma liegt hinter uns.«

»Das weiß ich«, gab Ludwig zurück. »Wir werden jetzt aber zuerst einmal auf die Wache fahren, einen Alkoholtest machen und uns Ihre Aussage dann noch einmal ganz in Ruhe anhören.«

*

Lars und Holger waren bis an die hinterste Wand des Kellerraumes zurückgewichen. Draußen war das Scharren mächtiger Klauen auf dem Boden zu hören. Etwas strich immer wieder an der Hauswand entlang, was ein schabendes Geräusch verursachte. In regelmäßigen Abständen verdunkelte sich der helle Fleck auf dem Boden, der durch das schummrige Licht der Gartenlampe erzeugt wurde. Immer wieder schwoll draußen das Rauschen an, um dann kurz darauf abrupt zu verstummen. Unvermittelt gab es draußen einen leisen Knall, das Splittern von Glas wurde hörbar, und dann verlosch der Lichtfleck vollständig.

Lars drückte seinen Bruder fest an sich. Die Angst lähmte seinen Körper, dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der harte Stein in seinem Rücken fühlte sich warm an; auch die Luft in dem sonst immer sehr kühlen Raum hatte nun eine ungewöhnlich hohe Temperatur. Selbst der Boden war schon fast heiß zu nennen. Jetzt erkannte Lars, daß er nicht nur vor Angst schwitzte.

»Laß uns nach oben gehen«, flüsterte er seinem kleinen Bruder zu. »Wir können uns in der Küche verstecken, da ist nur ein kleines Fenster.«

»Warum ist es hier so heiß?« fragte Holger.

»Keine Ahnung. Es scheint so, als hätte sich der Boden stark erwärmt. Es ist besser, wenn wir hier verschwinden.« Leise stiegen sie die Holztreppe ins Erdgeschoß hinauf und eilten durch das Wohnzimmer an einem der großen Gartenfenster vorbei. In der Küche stellten sie erleichtert fest, daß die roten Vorhänge zugezogen waren. Sachte schob Lars eines der Stoffstücke beiseite und spähte hinaus. Im Garten drängten sich mittlerweile drei der riesigen Wesen, jedes hatte eine andere Farbe. Der größte der Drachen war beinahe silbern, ein zweiter besaß hellgrüne Schuppen. Etwas abseits stand nun das zuerst angekommene Wesen, dessen Rottönung nun nicht mehr so genau zu erkennen war wie vorhin. Über dem Haus kreisten in niedriger Höhe noch ein paar weitere Drachen, deren Silhouetten sich vom Nachthimmel abhoben. Ständig erhellten kurze Flammenstöße das Gebiet um das Haus herum.

Holger schob sich neben Lars an das Fenster und lugte ebenfalls hinaus. »Mann, das müssen ja mindestens zehn sein! Was meinst du suchen die hier?«

»Weiß nicht«, sagte Lars abwesend. »Aber es sieht so aus, als würden sie sich hier versammeln.«

»Ob wohl noch mehr kommen werden?« Holger zog sich vom Fenster zurück. »Ich gucke mal nach, ob wir vielleicht vornerum abhauen können.«

Bevor Lars ihn aufhalten konnte, war er auch schon unterwegs zur Haustür. »Holger! Warte! Sie werden dich noch sehen.« Er eilte seinem Bruder hinterher, doch Holger stand bereits am Ausgang und öffnete langsam die Tür.

»Die wissen doch schon längst, daß wir hier sind«, meinte der kleine Junge, während er versuchte, durch den Spalt zu blicken. »Ich wette, die warten auf etwas. Ach du dickes Ei! Da sind ja noch mehr! Ich glaub's nicht, die ganze Straße ist voll von ihnen. Und alle sehen anders aus.« Er öffnete die Tür nun ganz, so daß auch Lars sehen konnte, was er beschrieben hatte. Fassungslos standen die Brüder auf der Schwelle und betrachteten die Ansammlung der geflügelten Reptilien, die sich auf der gesamten Länge des Gerstenweges niedergelassen hatten. Und es wurden immer mehr. Am Himmel zogen mindestens noch einmal so viele Drachen ihre Kreise und stießen Flammen aus. Die Luft war voller Schwefelgeruch, leichter Rauch hatte sich über das Grundstück gelegt. Doch obwohl sie nun klar sichtbar im Hauseingang standen, zeigten die Wesen keine Reaktion. »Meinst du, sie haben uns überhaupt bemerkt?«

»Darauf kannst du Gift nehmen«, gab Lars zurück. »Siehst du, wie sie ab und zu hierherschauen? Sie wissen, daß wir hier sind. Wahrscheinlich werden sie nichts tun, solange wir auch hier bleiben. Wir sollen nur nicht weg, das ist es.«

Plötzlich spreizte ein dunkelblaues Tier seine gigantischen Flügel und hob in den Himmel hinein ab. Der Anblick ließ den beiden den Atem stocken. Am Boden wirkten die Drachen behäbig, fast plump; aber die Geschwindigkeit, mit der das Wesen in die Luft emporgestiegen war, belehrte sie nun eines Besseren. Pfeilschnell jagte es knapp über das Hausdach hinweg und verschwand auf der anderen Seite.

Jetzt waren die ersten Rufe erschreckter Anwohner zu hören, die von dem Spektakel wach geworden waren. Man hörte Türen schlagen und Rolladen herunterfahren. In einem Haus hatte sogar die Alarmanlage angeschlagen; das Heulen des Signalgebers drang gedämpft zu ihnen herüber. Irgendwo in der Nähe begann ein Kind zu weinen.

Unvermittelt ging ein kurzer Ruck durch den Boden, auf dem Lars und Holger standen. Sie waren so überrascht, daß sie sich gegenseitig stützen mußten, um nicht umzukippen. »Ein Erdbeben! Schnell, wir müssen aus dem Haus!« Lars griff Holger bei der Hand.

»Nein!« schrie er. »Da sind doch die Drachen. Sie werden uns fressen!«

»Jetzt komm schon, bevor es wieder losgeht!« Wie auf ein Kommando sackte die Erde ein paar Zentimeter ab. Lars sprang voraus und zog seinen kleinen Bruder mit sich. In der Mitte des Vorgartens blieb er stehen und wandte sich um. Er konnte sehen, wie das Haus unter den Erdstößen zitterte, aber hier war nur wenig zu spüren. Es schien, als bewegte sich nur der Boden unter dem Gebäude. Holger und Lars staunten nicht schlecht, als sich das Haus, in dem sie vor wenigen Minuten noch gewesen waren, langsam in die Luft erhob.

*

»Ich versichere Ihnen, daß ich völlig nüchtern bin«, beklagte sich Ralf, während sie die Landstraße in Richtung der Kleinstadt entlangfuhren. »Es hat sich alles genau so abgespielt, wie ich es gesagt habe. Ich weiß ja, daß es unglaublich klingt - ich würde es wohl auch nur schwer glauben, wenn ich nicht dabei gewesen wäre aber es ist verdammt nochmal die Wahrheit.«

»Unglaublich? Das ist nicht ganz das richtige Wort.« Hans wandte sich zu dem Wachmann um. »Ich würde eher das Wort unglaubwürdig benutzen. Warum erzählen Sie uns nicht, was wirklich geschehen ist? Wenn Sie angegriffen worden sind, warum sagen Sie uns dann nicht, von wem?«

»Aber das habe ich bereits. Sie wollen mir nur nicht glauben. Warten Sie es nur ab. Es wird mit Sicherheit wiederkommen. Dann werden Sie mir glauben müssen, wenn es dafür nicht schon zu spät ist.«

Hans hatte in seiner sechzehnjährigen Amtszeit schon viele wirre Geschichten gehört, nicht selten gefärbt von einer Art Weltuntergangsstimmung wie in diesem Fall. Eigentlich war er auch aus diesem Grund aus der Großstadt hierher aufs Land gezogen, um all den Verrückten zu entkommen, die ihm dort auf der Straße begegneten. Nur schien es hier kaum besser zu sein. Es gab sie immer noch, wenn auch in geringerer Zahl. »Hören Sie«, begann er mit sanfter Stimme. »Noch niemals hat jemand einen Drachen gesehen, weil es keine gibt. Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben, oder was Sie angefallen hat; ich weiß nur: Es war mit Sicherheit kein Drache.«

Ralf wollte etwas antworten, aber er kam nicht mehr dazu. Der Polizeiwagen stoppte plötzlich mit quietschenden Reifen, kurz nachdem sie den Ortseingang passiert hatten. Hans stützte sich am Armaturenbrett ab, bis sie mit einem Ruck angehalten hatten. Dann blickte er nach vorne, wo er im Scheinwerferlicht eine Frau sah, die ihnen beinahe vor den Kühler gelaufen wäre. Sie blickte kurz zu ihnen herüber, drehte sich dann um und rannte wieder fort, quer über ein Grundstück in die nächste Seitengasse hinein.

»Was zum...« begann Ludwig und stieg aus. »He! Was soll das? Wo wollen Sie hin?« Er bekam keine Antwort. Statt dessen vernahm er das leise Heulen einer Alarmanlage. Er wandte den Kopf in die Richtung aus der das Geräusch kam und beobachtete die entfernte Häuserzeile auf der Anhöhe. Von dort kamen regelmäßig Lichtblitze, leichter Rauch lag in der Luft. Jetzt, da er aufmerksam geworden war, hörte er Menschen schreien. »Da laust mich doch der Affe! Was ist denn heute nacht in die Leute gefahren?« Er stieg eiligst wieder in den Wagen, schaltete Blaulicht und Martinshorn ein und beschleunigte.

»Was ist?« fragte Hans, der von allem nichts mitbekommen hatte. »Warum die Festbeleuchtung?«

»In der Siedlung auf dem Hügel geht etwas vor sich«, antwortete der Fahrer. »Anscheinend brennt es dort. Zumindest habe ich Rauch gesehen. Außerdem schreien Menschen.«

»Ich gebe gleich in der Zentrale Bescheid«, sagte Hans und begann, den Funkspruch abzusetzen. In der Zeit raste der Polizeiwagen durch die nächtlichen Straßen, auf denen sich ansonsten kein weiteres Fahrzeug bewegte.

Kurz bevor sie in den Gerstenweg einbiegen konnten, tauchte vor ihnen etwas auf der Straße auf. Es kam so schnell, als wäre es direkt vom Himmel gefallen. Ein riesiger Körper versperrte unvermittelt die Fahrbahn, und Ludwig stieg in die Bremsen. Trotz der schnellen Reaktion war es allerdings schon zu spät. Sie rammten das Hindernis mit etwa vierzig Stundenkilometern, doch der harte Schlag, den sie erwarteten, blieb weitgehend aus. Es war eher so, als würden sie in eine Wand aus Stroh hineinfahren. Doch als sie zum Stillstand gekommen waren, war nichts mehr auf der Straße zu sehen. Allerdings war nun der Blick auf die Siedlung frei. Hans und Ludwig trauten ihren Augen nicht, als sie die vielen verschiedenfarbigen Geschöpfe sahen, die hier versammelt waren. Die ganze Straße war von ihnen besetzt, sie saßen auf Vorgärten, Dachfirsten und parkenden Autos, die sich unter ihrem Gewicht verbogen. Flammen stiegen auf und verloschen wieder, gelegentlich ertönte ein Schrei.

Die drei Insassen des Polizeifahrzeuges waren mittlerweile ausgestiegen und betrachteten nun ungläubig das Bild vor sich. Ralf schwieg. Jetzt war jede weitere Erklärung überflüssig.

Die meisten der Drachen - Ludwig fand, daß dieser Name der einzige war, der zu ihnen paßte; alles andere wäre ihnen nicht gerecht geworden - hatten sich um ein bestimmtes Haus herum niedergelassen, vor dem zwei Kinder standen und sich bei den Händen hielten. Doch die Reptilien schienen zu seiner Erleichterung nur wenig Notiz von ihnen zu nehmen. Sie betrachteten mehr das Gebäude selbst.

»Ludwig! Sieh dir das Haus an! Es wackelt!«

In der Tat schwankte es nun sichtbar hin und her. Dann plötzlich schien es sich von dem Untergrund, auf dem es stand, zu lösen. Es hob tatsächlich fast einen halben Meter ab, während grelles Licht darunter hervorstrahlte. Nur wenige Augenblicke später fuhr eine Stichflamme durch die Holzbalken des Gebäudes und verkohlte sie innerhalb weniger Sekunden.

*

Lars hatte sich in dem Moment, als das Haus Feuer fing, mit Holger zu Boden geworfen. Jetzt fielen überall schwarze Trümmerstücke zu Boden, die sie aber nicht verletzten. In der Mitte der Ruine erhob sich nun ein Wesen, das gigantischer war, als alle anderen, die um das Haus herum warteten. Es hatte einen mit golden strahlenden Schuppen bedeckten Leib, sein Hals war nahezu zwanzig Meter lang, und die leuchtend grünen Augen blickten sich unter seinen Artgenossen um. Die Drachen neigten die Köpfe und verharrten; Stille senkte sich über die Straße.

Majestätisch breitete der große Drache seine mächtigen goldenen Schwingen aus. Doch als er abheben wollte, fiel er mit einem Ruck auf den Boden zurück. Einer seiner Hinterläufe war mit einer dicken Kette am Erdboden befestigt. Sofort flogen zwei der übrigen Reptilien los, um ihrem Anführer zur Hilfe zu kommen. Sie schlugen mit ihren kräftigen Pranken auf die Fessel ein, doch sie löste sich nicht. Auch der Flammenatem der Wesen konnte nichts ausrichten. Das Schloß, ein relativ klein aussehender Kasten mit einem etwa zehn Zentimeter breiten Schlitz in der Mitte, hielt allen Versuchen, aufgebrochen zu werden, stand. So sehr sich die Drachen auch bemühten, es hielt den großen Drachen unnachgiebig gefangen.

»Sie sind zu groß«, flüsterte Holger seinem Bruder ins Ohr. »Sie können das Schloß nie mit ihren riesigen Klauen öffnen.« Er richtete sich auf, blickte noch einen Moment lang umher und rannte schließlich auf das Haus zu.

»HOLGER! Bist du wahnsinnig geworden? Bleib hier, du Schwachkopf!« Lars war nun ebenfalls aufgestanden und rief hinter seinem Bruder her. Doch der kleine Junge reagierte nicht. Im Gegenteil, er rannte nur noch schneller, direkt auf den riesigen goldenen Drachen zu, der inmitten der Trümmer ihres einstigen Zuhauses stand und verzweifelt an seiner Kette zerrte.

Wenige Meter vor dem Schloß ließ Holger sich auf die Knie sinken und begann, in dem verkohlten Schutt herumzuwühlen. Wenig später fand er, was er gesucht hatte. Er stand auf, eilte zu der Kette hinüber und bekam das Schloß zu fassen, das von dem Reptil wild hin- und hergeschüttelt wurde. Mit einem hörbaren Klicken entriegelte der Schraubendreher den Mechanismus innerhalb des Schlosses, und die Kette fiel auseinander. Beinahe im selben Augenblick stieß der Goldene einen lauten Schrei aus und hob mit kräftigen Schwingenschlägen ab, welche die Kinder zu Boden drückten. Triumphierend schmetterte der Drache seine Schreie in den Himmel, während seine übrigen Artgenossen in die Rufe einfielen. Es entstand ein Getöse, das man noch in gut fünf Kilometern Entfernung hören konnte. Überall starteten Drachen, um ihrem Anführer zu folgen. Sie stiegen immer höher in den Himmel und waren bald nicht mehr zu sehen.

Holger betrachtete den Aufbruch des Drachenvolkes. Er spannte seine Arme aus und wünschte sich, daß er mit ihnen fliegen könnte, fort von allen, die ihn immer nur verletzt hatten, in eine Welt, in die sie ihm niemals folgen konnten. »Nehmt mich mit!« rief er ihnen nach. »Nehmt mich mit!«

Wieder starteten zwei der Drachen und entschwanden ins dunkle Nichts der Nacht. Doch dann landete plötzlich eines der Wesen direkt neben dem Jungen, der traurig den fortfliegenden Drachen nachstarrte. Es war das Tier mit den roten Schuppen, das sie zuerst im Garten ihres Hauses erblickt hatten. Seine bernsteinfarbenen Augen betrachteten das Kind, und plötzlich schoß ein Strahl blauen Feuers aus ihnen heraus, um den kleinen Körper zu umhüllen. Daraufhin erhob sich der Drache, um sich seinen Artgenossen anzuschließen.

Holger stand immer noch mit ausgebreiteten Armen da, als er eine merkwürdige Veränderung spürte, die in ihm vorging. Seine Hände spreizten sich weit zu langen, dünnen Knochen, zwischen denen sich eine starke Membran bildete. Sein Hals streckte sich - wurde biegsam; die Haut bedeckte sich mit unzähligen, regenbogenfarbenen Schuppen. Wenig später war auch der letzte menschenähnliche Zug an ihm verschwunden.

Fassungslos hatte Lars die Verwandlung mitangesehen und stürzte jetzt auf das Wesen zu, das vorher einmal sein Bruder gewesen war. Er blieb vor dem fünf Meter langen Geschöpf stehen und streckte die Arme aus. »Holger! Was tust du? Warum tust du das?«

Der Regenbogendrache beugte seinen Hals zu dem Menschen hinunter und rieb seinen großen Kopf an seiner Schulter. Eine Träne rollte aus seinem Auge, als er Lars ins Gesicht blickte.

Jetzt begriff er. »Du willst wirklich gehen?« fragte er. »Natürlich willst du das, was für eine blöde Frage. Aber du sollst wissen, daß ich dich liebe. Ich werde dich sehr vermissen, du kleiner Gauner.« Auch seine Augen wurden feucht. Mittlerweile waren nahezu alle Drachen davongeflogen. Nur noch zwei der großen Tiere saßen mit erwartungsvollen Augen vor dem Grundstück. »Na los, Mann! Sie warten auf dich. Ich wünsche dir Glück.« Er gab seinem Bruder einen Klaps auf die Wange. »Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder. Paß gut auf dich auf, Kleiner!«

Dann hob der Regenbogendrache ab, und die anderen beiden folgten ihm. Lars rief ihnen noch ein paar Abschiedsworte hinterher, bis sie schließlich in der Schwärze verschwunden waren. Wie schon gesagt, er hatte seinem Bruder nie besonders nahe gestanden, aber heute nacht hatte er das Gefühl, daß eine Hälfte seines Herzens mit ihm davongeflogen war.

ENDE