Die Grube
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)01.07.1997)

Philip schaltete den kleinen Fernseher ab; es war wenige Minuten vor Mitternacht. »Wenn wir morgen so früh loswollen, sollten wir uns rechtzeitig hinhauen.« Er blickte zu Melanie hinüber, die eifrig damit beschäftigt war, ein Kreuzworträtsel zu lösen. »He, Schatz! Hast du gehört, was ich sagte?«

Völlig in Gedanken blickte seine Verlobte auf. Es gelang ihr allerdings, aus den letzten Wortfetzen den Sinn des Satzes herauszufiltern. »Warum willst du eigentlich so früh raus? Der Wald läuft uns doch nicht weg, oder?«

»Darum geht's ja auch gar nicht. Aber du kannst mir glauben, daß es schon seinen Grund hat, warum ich noch vor dem Mittag da sein will. Ich kenne dort eine bestimmte Stelle, die ich dir gerne zeigen möchte. Mein ... mein Vater und ich sind sehr oft zu diesem Platz gegangen, als ich noch klein war.« Philip Neumann Senior war vor einigen Tagen gestorben. Seinen Sohn hatte er als Alleinerben eingesetzt, da er keine weiteren Kinder hatte und seine Frau bei Philips Geburt gestorben war. Die beiden hatten sich immer sehr nahe gestanden, selbst dann noch, als Philip Junior das kleine Bauerndorf verlassen hatte, um in einer der größeren Städte zu studieren. Dort hatte er auch Melanie kennen und lieben gelernt. Als die Nachricht vom Tode seines Vaters zu ihm drang, hatte sie viel dazu beigetragen, daß er den Schock so gut überstanden hatte. Zusammen waren sie an Philips Geburtsort zurückgekehrt, um dort den Nachlaß seines Vaters zu ordnen.

»Wenn du meinst, dann geh ruhig schon mal vor. Ich versuch' noch, ein paar Kästchen zu füllen.«

»Aber sag dann morgen früh nicht, ich hätte dir nicht Bescheid gesagt, wenn du deine Maulwurfsaugen nicht aufkriegst.« Grinsend stieg er die Treppe hinauf, um sich für die Nacht fertigzumachen. Er lag gerade mal eine Viertelstunde im Bett, als er zuerst das Klappern der Badezimmertür, dann die sanfte Stimme Melanies vernahm, die leise vor sich hin sang. Diese Angewohnheit seiner Verlobten faszinierte ihn immer wieder, denn nie summte sie die gleiche Melodie. Sie schien einen unerschöpflichen Vorrat von Tonfolgen zu besitzen. Dennoch hatte sie nie gelernt, ein Instrument zu spielen.

Als sie sich umblickte, merkte sie schon bald, daß sie nahezu jede Orientierung verloren hatte. Der Wald hatte sie von allen Seiten umzingelt, es gab keine markanten Stellen, an denen sie den Rückweg erkennen konnte. So ging sie einfach in eine Richtung drauflos, in der Hoffnung, auf den Waldrand oder einen Hinweis zu stoßen.

Leichter Nebel waberte über den feuchten Waldboden. Immer noch wußte sie nicht, welche Richtung die bessere wäre; und es wurde langsam dunkel. Unvermittelt sah sie vor sich eine Gestalt. Sie saß am Rande einer Lichtung, die von Bäumen nahezu kreisförmig begrenzt wurde. Es war ein Junge, der dort zusammengekauert auf einem Baumstumpf saß und weinte. Seine Kleidung war über und über mit Schmutz bedeckt, und sein Gesicht wies helle Tränenspuren auf. Während sie sich näherte, hörte sie seine leise Stimme: »Ich war zu schwach. Zu klein. Es war meine Schuld.« Behutsam ging Melanie näher heran und streckte ihre Hand nach dem Jungen aus. Unvermittelt riß er den Kopf herum, doch sein Gesicht war das eines alten Mannes, faltig und ergraut. Er schrie ihr etwas entgegen, doch in diesem Augenblick flammte grelles Licht auf.

Melanie öffnete die Augen. Philip verließ gerade mit einem leisen »Guten Morgen« das Zimmer. Verschlafen drehte sie sich zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch um und war erschüttert, als sie sah, daß es gerade erst halb acht war. »Du Sadist!« rief sie ihm etwas kraftlos hinterher, bevor sie sich streckte und langsam richtig wach wurde. Ihre Laune besserte sich erheblich, als sie die Treppe hinunterstieg und gleich darauf duftenden Kaffee roch. Philip stand am Wohnzimmertisch und trug gerade die letzten Utensilien für das Frühstück auf. »'n Morgen Phil«, begrüßte sie ihn. »Findest du nicht, daß es noch ein bißchen früh ist?«

Philip setzte sich und wartete, bis Melanie ebenfalls Platz genommen hatte. »Ich möchte einfach sicher gehen, daß wir nichts verpassen«, sagte er, während er Melanies Kaffeetasse füllte. »Wenn wir dort sind, weißt du, warum.«

»Was willst du denn nicht verpassen?«

»Sag' ich jetzt noch nicht. Ich finde, das solltest du selbst sehen, ohne daß ich zuviel vorwegnehme.« Er ignorierte ihre protestierende Miene und begann zu essen. Auch Melanie griff in den Brotkorb, hörte jedoch nicht auf, Philip ärgerliche Blicke zuzuwerfen.

Gegen halb neun zog Philip die Tür zu und schloß ab. Dann wandten sie sich der Straße zu, die nach Osten hin aus dem Ort hinausführte. Beide hatten einen leichten Rucksack bei sich, da sie beabsichtigten, ein Picknick zu machen. Der Himmel war klar, nur ein paar willkommene Schönwetterwolken zogen in großer Höhe vorbei. Melanie dachte insgeheim fieberhaft darüber nach, was es wohl sein könnte, das er so wichtig nahm. Sie fand jedoch nichts, was irgendwie aus früheren Erzählungen und Andeutungen hervorging. Es mußte also etwas sein, das er ihr gegenüber noch nie erwähnt hatte. Dies ließ zwar einigen Spielraum zu, jedoch waren sie nun immerhin schon drei Jahre zusammen. In dieser Zeit hatten sie sich schon so einiges voneinander erzählt. Es schien so, als sei diese Spanne nicht genug, einen Menschen vollkommen kennenzulernen. Nicht, daß Philip ihr gegenüber besonders verschlossen wäre, er plapperte eigentlich unaufhörlich von sich und seinen Erlebnissen. Sie fand es immer sehr interessant, was er so alles erlebt hatte. Sie selbst war in einer völlig normalen Umgebung aufgewachsen. Ihre Eltern hatten sich irgendwann scheiden lassen, sie hatte das Gymnasium besucht und irgendwann ihr Abitur gemacht und war in eine Studentenwohnung gezogen. Gemessen an dem, was Philip so erzählte, war ihr Leben eigentlich recht langweilig verlaufen. Was konnte es also sein, das ihn so sehr faszinierte?

Die Straße bog bald nach Norden ab, doch Philip folgte einem Sandweg, der die ursprüngliche Richtung beibehielt. Bald schon befanden sie sich auf einem Waldpfad, der zu beiden Seiten von dichten Baumbeständen eingefaßt wurde. Der Weg selbst war zu Anfang noch recht breit, wandelte sich aber sehr bald in einen Trampelpfad, der nicht mehr als einen halben Meter von einer Seite zur anderen maß. »So, und jetzt paß auf«, sagte Philip und zog sie vom Weg hinunter zwischen die Bäume. Hier standen die Stämme sehr dicht beieinander, nur wenig Sonnenlicht gelangte bis auf den Waldboden. »Diesen Weg kennen nur sehr wenige. Deshalb ist es dort, wo wir hinwollen, immer sehr still.« Er hielt ihre Hand fest und durchquerte den Wald auf einem Weg, den Melanies Augen vergeblich suchten. Er schien sich aber ziemlich sicher zu sein. »Halt dich an mir fest, kleines Mädchen, sonst verirrst du dich noch im tiefen, tiefen Wald«, intonierte er mit dunkler Stimme.

»Oh ja, sicher werde ich mich festhalten«, piepste sie. »Ich fürcht' mich ja so.«

Sie wanderten etwa eine halbe Stunde zwischen den Bäumen hindurch, bis Philip endlich anhielt. »So, und nun mach die Augen zu.«

»Ich werde dich jetzt nicht fragen, warum; da bekomme ich ja sowieso keine Antwort.« Also senkte sie die Lider und spürte, wie Philip ihr den Arm um die Taille legte, als er sie zu führen begann. Lächelnd folgte sie seinen sanften Anweisungen, während sie weiterhin die Augen geschlossen behielt.

Er dirigierte sie ein paar Meter weit, bis er dann seinen Arm zurückzog. »Jetzt darfst du gucken.«

Melanie öffnete ihre Augen und sah sich um. Sie stand auf einer natürlichen Lichtung, deren Mitte ein etwa zwanzig Meter durchmessender See bildete. Die Oberfläche des Wassers spiegelte die rundherum stehenden Bäume und den blauen Himmel wider. Die Sonne stand nahezu am höchsten Punkt; fast genau in der Mitte des Sees spiegelte sich ihr Abbild. Philip bückte sich. »Und jetzt sieh genau hin.« Er hatte etwas in der Hand, das er nun ins Wasser warf, mitten in den hell strahlenden Fleck hinein. Ein leises Platschen folgte, konzentrische Kreise breiteten sich um die Stelle herum aus. Das Sonnenlicht brach sich auf den Wellenkämmen, wurde gestreut und zauberte eine Unzahl bunter, schillernder Punkte auf die Stämme und Blätter der Bäume. Niemals blieben sie an einem Fleck, noch konnte man ihre Bewegungen vorhersagen. Sie veränderten sich, strahlten hier auf und huschten gleich darauf wieder fort. Wie das Glitzern von Schneeflocken im Licht eines riesigen Scheinwerfers stoben sie in alle Richtungen auseinander, um sich an anderer Stelle neu zu formieren. Melanie betrachtete verzückt die hellen, tanzenden Flecken, bis auch die letzte Welle am Ufer des Sees angelangt war. Sie war völlig sprachlos.

Nachdem sie ihre Gedanken wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, blickte sie Philip an, der gerade seinen Rucksack absetzte. »Das ist der wundervollste Anblick, den ich seit Jahren miterlebt hatte. Wie ist so etwas möglich?«

»Ich habe keine Ahnung. Mein Vater hat mir diese Stelle gezeigt. Wir sind oft hiergewesen, immer zur Mittagszeit. Und dann hat er von seinem Leben erzählt - und von meiner Mutter.« Er begann langsam das Picknickessen auszupacken. »Aber den Grund für die Lichtspiegelungen wußte auch er nicht. Ich schätze, niemand außer uns beiden weiß jetzt noch, daß es diesen Platz überhaupt gibt.«

»Er liegt ja auch ganz schön einsam.« Sie half ihm dabei, das kleine Mittagessen vorzubereiten. »Es ist total friedlich hier, man merkt gar nicht, daß sich ein paar Kilometer weiter eine Stadt samt Autobahn befindet.«

»Irgendwie unwirklich, aber trotzdem ist man da.« Philip hatte mittlerweile die Decke ausgebreitet und den Inhalt seines Rucksacks darauf verteilt. »Was ist, hast du Hunger?«

»Was glaubst du denn! Nach diesem Marsch könnte ich einen ausgewachsenen Ochsen verschlingen.« Sie beeilte sich, ihren Anteil auszupacken, damit sie endlich essen konnten.

Später saßen sie am Ufer, während die Sonne langsam weiterzog. Melanie hatte ihre Schuhe ausgezogen und ließ die Füße ins kühle Wasser baumeln. »Was war dein Vater für ein Mensch?« fragte sie, nachdem sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander gesessen hatten.

Philip zögerte einen Augenblick, um sich selbst über eine Antwort klar zu werden. »Er war sehr nett, immer ruhig und vernünftig. Er hatte auf alle meine Fragen eine Antwort. Er war damals Geschäftsführer des kleinen Supermarktes im Ort. Es ist schon seltsam, aber nie hat er seinen Ärger, den er selbstverständlich mit seinen Kunden hatte, an mir ausgelassen. Ich habe später so einiges gehört, wie er gelegentlich vor Wut über einen unverschämten Besucher seiner Filiale fast zersprungen wäre. Doch zu Hause war er immer der beste Vater, den ein Junge sich wünschen konnte. Er ging mit mir ins Kino, spielte Fußball in unserer Kindermannschaft und setzte sich mit meinen Lehrern und verärgerten Nachbarn auseinander. Nachdem Dr. Berger ihn wegen seiner anhaltenden Schmerzen ins Krankenhaus eingewiesen hatte, war in mir so langsam der Wille gewachsen, eines Tages genauso gut alleine leben zu können, wie er es schaffte. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß er Krebs hatte, aber trotzdem hielt sich der Gedanke in mir. Später wurde Vater wieder entlassen und kaufte das Haus, in dem wir dann etwas abgeschieden lebten. Heute weiß ich, warum er aus der Stadt fortgezogen war: Er wußte, daß ich eines Tages das Haus übernehmen würde. Erst jetzt kann ich ihm dafür richtig dankbar sein.«

»Einen solchen Vater hätte ich auch gerne gehabt. Meine Eltern haben sich leider nicht allzu gut verstanden. Nach der Scheidung hat er sich nach Österreich verzogen und das war's. Außer den monatlichen Unterhaltszahlungen haben wir nichts mehr von ihm gehört. Mein Bruder und ich sind bei Mutter geblieben. Alles in allem habe ich ihn kaum kennengelernt. Ich war zu der Zeit gerade mal vier Jahre alt.«

»So gesehen haben wir beide etwas gemeinsam. Wir sind Waisen, mehr oder weniger.« Philip nahm einen kleinen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Da die Sonne nun nicht mehr auf den See schien, blieben diesmal die Lichtspiegelungen aus. »Wir sollten wieder los; es gibt noch viel zu tun.«

Gemeinsam packten sie zusammen und verließen den See, der mittlerweile wieder spiegelglatt war. Als sie die erste Baumreihe hinter sich gelassen hatten, begann sich ein feiner Nebel über dem Wasser auszubreiten.

Die beiden jungen Leute waren seit einigen Stunden wieder bei der Arbeit und steckten nun bereits bis zum Hals in altem Gerümpel. Auf der einen Seite stapelte sich das, was sie nicht behalten wollten, die andere Seite war vollgestellt mit mehr oder weniger nützlichen Dingen oder solchen, die Philip nicht weggeben wollte. »Dein Vater scheint ein sparsamer Mensch gewesen zu sein. Jedenfalls hat er nichts weggeworfen.« Sie deutete auf ein Gewirr uralter Kabel. »Das Zeug funktioniert sicher nicht mehr.«

»Und das hier hat bestimmt auch schon bessere Tage gesehen.« Philip hielt einen Stapel Papier in die Höhe, der schon reichlich angegilbt aussah. »Sieh dir das an, alles uralter Kram.« Er blätterte die Seiten mit zum Teil verlaufener Tinte durch. »Nichts als Zahlen, Rechnungen und so weiter. Typisch Vater. Wenn er nicht irgend etwas zu berechnen hatte, war er nicht zufrieden.« Er warf die Blätter auf den großen Stapel und bückte sich nach dem nächsten Haufen.

»Nicht so schnell!« rief Melanie plötzlich aus. »Da ist was rausgefallen. Ein Buch oder so was.« Sie griff nach dem Gegenstand und hielt ihn in das Licht der Glühbirne, die an einer losen Fassung baumelte, damit sie beide den Fund betrachten konnten.

»Nun schlag es schon auf«, drängte Philip, nachdem er festgestellt hatte, daß der Einband nicht beschriftet war.

Vorsichtig klappte Melanie den Deckel auf. Ein rissiges Blatt voller kleiner Schmutzflecken befand sich darunter. Behutsam blätterte sie um, und es kam eine Zeichnung zum Vorschein, die einen jungen Mann darstellte, der lächelnd auf einer Wiese stand. Unter dem Bild war eine Signatur angebracht: P. Neumann, 1954. »Ist das dein Vater?« fragte Melanie leise.

»Nein, diesen Mann kenne ich nicht. Aber er muß ihn gezeichnet haben. Ich wußte gar nicht, daß er so etwas konnte. Warte mal ... 1954, da war er gerade mal sieben Jahre alt! Du meine Güte! Wenn er damals schon so gut zeichnen konnte, warum hat er dann damit aufgehört?«

»Laß mal sehen, vielleicht kommen da noch mehr Bilder.« Melanie blätterte nochmals um. Philip beobachtete sie, wie sie Seite um Seite überschlug, nur um immer andere Bilder von Wald- und Feldlandschaften zu finden. Plötzlich ließ sie mit einem Aufschrei das Buch fallen, welches zwei seiner Seiten verlor. »Das gibt es nicht ...« Atemlos betrachtete sie die Bildersammlung, die im Augenblick ihre Schätze verborgen behielt.

»Was hast du?« Philip bückte sich und hob das Buch auf.

»Dieses Bild kenne ich. Ich meine ... Die Zeichnung - ich habe das schon einmal gesehen.« Als Philip sie fragend anblickte, zeigte sie auf das Buch. »Nach den ganzen Waldillustrationen kommt eine Zeichnung, die den See zeigt, an dem wir heute mittag waren.« Philip nickte, er hatte die Abbildung gerade gefunden. »Der Junge, der da sitzt ... Ich habe ihn gestern nacht im Traum gesehen! Das ist kein Witz, falls du das glaubst! Ich habe von ihm geträumt. Allerdings hat er auf einer Lichtung voller Nebel gesessen, und sein Gesicht hatte sich plötzlich verändert.«

Philip betrachtete zuerst das Bild, dann Melanie. »Ich muß es wohl doch glauben. Warum solltest du so etwas denn behaupten, wenn es nicht stimmt? Das hier ist eine Zeichnung meines Vaters; er muß damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Die Signatur sagt ganz klar: 1956. Kannst du mir genauer sagen, was du geträumt hast?«

Melanie berichtete ihm von ihrem Traum. Am Ende waren sie genauso ratlos wie vorher. »Warum glaubst du habe ich das geträumt? Ich meine, mir ist so etwas nie zuvor passiert! Ich bin doch kein Medium.«

Philip zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, vielleicht doch? Aber eigentlich hätte, wenn schon jemand, dann ich von ihm träumen müssen. Außerdem frage ich mich, warum er den Spiegelsee auf dem Bild matt eingezeichnet hat. Nicht ein Baum zeigt sich auf seiner Oberfläche.« In der Tat war das Ufer des Sees klar durch dichtes Schilfgewächs eingefaßt, während die Fläche, die am heutigen Morgen noch so lebhaft gefunkelt hatte, in eintöniges Grau gehalten war.

»Irgendwie gefällt mir das nicht.« Melanie fröstelte und schlang die Arme um sich.

»Ich sag' dir was: Wir lassen's für heute gut sein und legen uns schlafen. Etwas Ruhe wird uns beiden gut tun. Morgen sieht alles anders aus, glaub mir.« Er klappte das Buch zu, nahm Melanie in den Arm und schlenderte die Treppe hinunter, die vom Dachboden ins erste Stockwerk führte. Diesmal war er es, der später ins Bett ging, da er sich das Buch noch einmal Seite für Seite ansah, voller Erinnerungen und Gedanken an sein früheres Leben.

Die Bäume standen dicht um sie herum. Leichter Dunst schwebte über dem Boden, der ihre Füße verschluckte. Es war kalt, und Melanie zitterte. Sie spürte, daß sie schon einmal hiergewesen war, doch sie konnte sich nicht erinnern, wann. Die Nacht hatte alles um sie herum in tiefste Schwärze getaucht. Sie spürte, daß sie nichts außer ihrem leichten Nachthemd trug; die vielen kleinen Unebenheiten des unsichtbaren Bodens gruben sich schmerzhaft in ihre Fußsohlen. Da sie nicht wußte, in welche Richtung sie sich wenden sollte, setzte sie sich langsam in Bewegung. Sie streckte eine Hand aus, damit sie nicht gegen ein Hindernis stieß und ging voran. Die absolute Dunkelheit wurde plötzlich an einer Stelle durchbrochen. Schwaches Mondlicht schimmerte durch die Zweige zu ihrer Linken. Langsam ging sie auf die Stelle zu und stand schließlich auf einer Lichtung. Melanie hielt den Atem an. Sie spürte, daß es dieses Mal kein Traum war, obwohl sie nicht wußte, wie sie hierhergekommen war. Wie gebannt starrte sie auf das Zentrum des Platzes, das wie alles hier vom Nebel bedeckt war. Dann hörte sie schnelle Schritte, die von der gegenüberliegenden Seite her kamen. Bevor Melanie überlegen konnte, ob sie sich besser verborgen hielt, kam ein Junge aus dem Wald auf die Lichtung gerannt, den sie sofort erkannte. Er begann, die Lichtung im vollen Lauf zu überqueren. Melanie wollte ihm zurufen, nicht in das Wasser zu rennen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Kurz darauf geriet der Junge ins Stolpern und platschte in den See. Doch das Geräusch war irgendwie falsch. Es war nicht hell und klar, so wie der Laut, als Philip den Stein hineingeworfen hatte; es klang eher träge und gedämpft, mehr wie ein Saugen und Schmatzen, in das sich die Hilferufe des Jungen mischten.

In diesem Moment verzog sich der Nebel, und Melanie erkannte den Grund für die Geräusche. Der See war nicht mehr ein Wasserloch; eine schlammige Grube war an seine Stelle getreten, die den kleinen Körper unbarmherzig umfangen hielt und langsam hinabzog. Er ruderte nutzlos mit den Armen und schrie um Hilfe. Melanie wollte hinlaufen um ihm herauszuhelfen, doch ihre Füße schienen im Nebel festzustecken, so wie das Kind im Schlamm. Nun ragten nur noch der Kopf und die Arme aus dem zähen Morast heraus, und die Schreie wurden schwächer.

Sie erschrak, als unvermittelt jemand rechts von ihr die Lichtung betrat. Es war ein junger Mann, den sie vor kurzem noch gesehen hatte. Er nahm keine Notiz von ihr, beeilte sich aber, zu dem Jungen zu gelangen. Mit einem Bein selbst im Morast, mit dem anderen auf einem in den Schlamm hineinragenden Ast stehend reichte er dem Kleinen ein langes Stück Holz. Das Kind griff nach dieser Hilfe, und es gelang dem Mann, ihn weit genug herauszuziehen. Einen Augenblick später aber brach der Ast unter ihm in zwei Teile, woraufhin er selbst in den Sog der Grube geriet. Angstvoll blickte der Junge zu seinem Retter hin, der immer tiefer hinabgezogen wurde. Er reichte ihm das Holzstück hin, konnte aber nicht genug Kraft aufbringen, um den Mann herauszuziehen oder ihm zumindest Halt zu bieten. Wenige Minuten später saß der Junge alleine auf einem Baumstumpf und starrte auf eine Stelle im Morast, an der immer noch die eine oder andere Blase an die Oberfläche kam. Feine Nebelschwaden zogen sich langsam vom Rand her über die Grube.

Das Bild verschwamm vor Melanies Augen, um einem Zimmer Platz zu machen, das ihr wohlbekannt war. Vor ihr stand das breite Ehebett, in dem Philip friedlich vor sich hinschlummerte. Sie schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Eigentlich hatte sie nicht das Gefühl gehabt zu träumen, doch jetzt war sie wieder im Schlafzimmer des Hauses am Waldrand. Verwundert blickte sie an sich hinab und bemerkte den Schmutz an ihren bloßen Füßen und die leichten Schmerzen in den Sohlen. Auch waren ihre Haare ein wenig feucht; auf dem weißen Nachthemd fanden sich dunkle Flecken. Also bin ich doch dort gewesen! Und der Mann ist wirklich im Schlamm versunken. Womöglich sitzt der Junge immer noch da. Melanie umrundete das Bett und begann Philip sanft zu schütteln.

»Was ist denn los?« fragte er, als er endlich die Augen öffnete. »Wie spät ist es?«

»Ich ... Keine Ahnung, wie spät es ist. Wir müssen schnell zum See! Der Mann ist darin versunken, und der Junge sitzt immer noch da! Wir müssen zu ihm, bevor er sich noch verläuft.«

»Was? Entschuldige, aber ich bin wohl noch nicht ganz wach. Wovon sprichst du? Was für ein Mann?«

»Ich war am See, im Wald. Er ist ausgetrocknet, nur noch eine Schlammgrube. Und darin ist gerade ein Mann versunken! Er wollte dem Jungen helfen, ist aber selbst hineingefallen.«

Philip richtete sich halb auf und blickte Melanie fest in die Augen. »Du hast geträumt, Schatz! Ganz sicher. Der See kann nicht über Nacht einfach so versickern. Außerdem weißt du doch gar nicht, was dort geschieht, schließlich bist du ja hier.«

»Aber es war kein Traum, sicher nicht. Sieh dir mein Nachthemd an, oder meine Füße. Ich war ich muß dort gewesen sein, wie sonst käme ich zu diesen Flecken auf den Klamotten?«

»Jetzt setz dich hierher und hör mal zu. Ich will jetzt nicht sagen, daß du mich anlügst, oder daß du nicht weißt, wovon du sprichst. Aber denk doch mal darüber nach. Selbst wenn du einen Dauerlauf hinlegen würdest, bräuchtest du mehr als eine halbe Stunde bis dorthin, vorausgesetzt du fändest den kürzesten Weg im Dunkeln. Glaub mir, du hast geträumt und bist dabei schlafgewandelt.« Er strich ihr sanft über das Haar. »Ich glaube, die Zeichnungen von meinem Vater haben dich zu sehr beschäftigt. Leg dich wieder hin, und versuch noch ein wenig zu schlafen.«

Melanie machte ein bedrücktes Gesicht. »Irgendwie kann ich nicht glauben, daß es nicht echt war. Ich war so nahe dran, ich weiß noch jede Einzelheit; ich spüre sogar noch den Nebel an den Füßen.« Langsam stand sie auf und ging zur Tür.

»Wohin willst du?« fragte Philip ein wenig besorgt.

Sie lächelte. »Nur ins Bad, mir den Schmutz abwaschen. Keine Panik, ich lauf' schon nicht weg.« Sie verließ das Schlafzimmer und ging zur Dusche, um sich wenig später wieder ins Bett zu legen. Es dauerte lange, bis ihre aufgewühlten Gedanken sie wieder einschlafen ließen.

Der nächste Tag begann so, wie sie den Abend beendet hatten. Sie kramten immer noch in den alten Sachen herum, die auf dem Dachboden angehäuft waren. Die nächsten Stunden brachten sie damit zu, den nicht mehr brauchbaren Anteil nach Papier, Metall und Glas zu sortieren. Schließlich hatten sie gegen fünf Uhr nachmittags ein paar fest verknotete Müllbeutel vor sich stehen. Die Kartons mit dem Papier brachten sie zu Philips Wagen.

»Ich werde dann mal losdüsen«, sagte er schließlich, nachdem sie den Kofferraum vollgepackt hatten. »Soll ich noch etwas einkaufen, wo ich doch schon mal unterwegs bin?«

»Keine schlechte Idee.« Sie zählte ein paar Dinge auf, die ihr einfielen. »Wenn du zurück bist, koche ich uns was Feines zum Abendessen.«

Philip lächelte. »Ich freu' mich schon drauf. Bis später dann. Ruh dich ein bißchen aus.« Er winkte noch einmal und stieg dann in den Kombi. Wenig später war er auch schon auf der breiten Straße in Richtung des Ortskerns unterwegs.

Melanie blickte dem Wagen noch ein paar Sekunden lang nach und wandte sich schließlich wieder dem Haus zu. Sie schloß die Tür und ging ins Wohnzimmer, um - wie er vorgeschlagen hatte - ein wenig auszuspannen. Es war aber auch nicht leicht, einen solchen Fundus an alten Dingen zu sortieren. Philips Vater war tatsächlich ein sehr akribischer Mann gewesen, das bewiesen die zahllosen Rechnungen und Notizzettel, die sie bündelweise gefunden hatten. Es gab über jeden Gegenstand im Haus, und über viele, die nicht mehr dort standen, einen Beleg, wann und wo er gekauft worden war. Sie hatten sogar noch einen Kassenbon aus dem Jahre zweiundsiebzig gefunden, auf dem etwas von einem Plattenspieler vermerkt war.

Während sie sich auf der Couch entspannte, blickte sie sich im Zimmer um. Es war recht einfach eingerichtet, ein paar Bilder an den Wänden lockerten die Atmosphäre etwas auf, während der urige Wohnzimmerschrank dagegenhielt. Auch der Tisch war nicht gerade modern zu nennen, sie konnte sich gut vorstellen, daß zwei Leute gehörig ins Schwitzen kommen würden, wenn sie ihn forttragen wollten. In diesem Augenblick bemerkte sie das vergilbte Büchlein, das auf dem Tisch lag. Es war die Sammlung von Zeichnungen, die sie gestern auf dem Dachboden entdeckt hatten. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie mußte an ihren Traum denken, in dem sie den jungen Mann und das Kind gesehen hatte. Sie wollte sich aufrichten und das Buch durchblättern, doch irgend etwas in ihr zögerte. Was würde sie darin sehen? Na was wohl? Ein paar Bilder, sonst nichts, dachte sie. Ich werde das Buch aufschlagen, die Zeichnungen ansehen und es wieder zuklappen. Also, warum soll ich es dann erst öffnen? Immer noch starrte sie den brüchigen, titellosen Einband an, als berge er ein schreckliches Geheimnis. Langsam setzte sie sich auf, ohne das Buch aus den Augen zu lassen, und streckte eine Hand nach ihm aus.

Ihre Finger zuckten leicht zurück, als sie das Papier berührte. Gleich darauf ergriff sie das Buch und nahm es in ihren Schoß. Vorsichtig klappte sie den Deckel um. Darunter war eine leere Seite, dann folgte die Zeichnung des jungen Mannes, die sie bereits gestern gesehen hatte. Ein wenig beunruhigt stellte sie fest, daß sie dem Mann aus ihrem Traum hundertprozentig glich. Natürlich, sie hatte das Bild schon vorher gesehen, aber daß sie sich so präzise an einen Traum erinnern konnte, war bei ihr noch nie vorgekommen. Langsam blätterte sie weiter, besah sich die Zeichnungen des Waldes, immer neue Ansichten der Bäume folgten. Schließlich war sie auf der Seite angelangt, auf der sie den Jungen am Spiegelsee sitzen sah. Das Wasser war trübe, gleichförmig grau gehalten. Der Zeichner hatte ihn nur leicht mit dem Stift schraffiert. Erneut schob sie einen Finger zwischen die Seiten und blätterte weiter. Es war dieselbe Stelle, jedoch war der Junge nun aufgestanden. Auf dem nächsten Bild stand er etwas näher am See, mit einem traurigen Gesichtsausdruck. Dann hatte er den ersten Fuß ins Wasser gesetzt, doch keine Wellen zeigten sich. Plötzlich spannte Melanie sich an. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, bleib draußen! Geh nicht weiter!« Ängstlich schlug sie die nächste Seite auf. Der Junge steckte nun schon bis zur Hüfte im Morast, denn Wasser konnte es nicht sein. Fast gegen ihre Willen sah sie sich die nächste Zeichnung an. Er hatte die Arme erhoben und war bis über den Bauch hinweg versunken, dann bis zur Brust, zum Hals ...

»Nein! Geh nicht! Ich hole dich!« rief Melanie, warf das Buch auf den Tisch und rannte zur Tür hinaus.

Den Weg bis zur Gabelung legte sie in weniger als zehn Minuten zurück. Dann verließ sie die Straße und betrat den Feldweg, der zwischen den Bäumen verlief. Hier verlangsamte sie ihre Schritte und blieb schließlich keuchend stehen. Ihr Atem ging stoßweise und formte weiße Dampfwölkchen in der empfindlich kühlen Luft. Als sie wieder einigermaßen Luft bekam, lief sie weiter. Unsicher äugte sie in den Wald hinein, in der Hoffnung, den Pfad wiederzufinden, den Philip sie entlanggeführt hatte. Sie wußte nicht mehr genau, wie weit sie von der Gabelung aus gegangen waren; außerdem machte ihr die einbrechende Dunkelheit die Orientierung doppelt schwer. Aber sie mußte sich beeilen, wenn sie den Jungen noch rechtzeitig erreichen wollte. Plötzlich hielt sie an und starrte in den Wald zu ihrer Linken hinein. Diese Stelle kam ihr bekannt vor, obwohl dies genausogut ein Trugschluß sein mochte. Dennoch bog sie hier vom Weg ab und lief zwischen die Bäume.

Die Stämme standen dicht an dicht und raubten dem fortgeschrittenen Abend die letzten Lichtstrahlen. Unsicher stapfte sie so schnell sie konnte voran, blieb immer wieder an vorstehenden Ästen und Wurzeln hängen, die sie aufzuhalten versuchten. Verbissen kämpfte sie sich weiter durch das widerspenstige Unterholz, immer weiter in die Richtung, in der sie den See die Grube, verbesserte sie sich in Gedanken vermutete.

Mittlerweile war es nahezu vollkommen dunkel geworden. Nur mit Mühe konnte Melanie die Baumstämme von der übrigen Dunkelheit um sie herum unterscheiden. Mit einer Hand schützte sie ihre Augen, während die andere voraus nach Hindernissen tastete. Die kühle Luft biß durch ihre dünne Kleidung und verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und schien zu Eis zu gefrieren. Sie hatte mittlerweile vollends die Orientierung verloren. Um sie herum waren nichts als Bäume, Sträucher und Wurzeln. Überall dasselbe Bild, soviel sie sehen konnte. Unschlüssig blieb sie einen Augenblick lang stehen, drehte sich einmal im Kreis und ging dann weiter, in irgendeine Richtung. Nun lief sie nicht mehr um des Jungen willen. Sie war nur noch von dem Verlangen erfüllt, den Rand des Waldes auf irgendeinem Wege zu erreichen.

Feiner Bodennebel hatte sich gebildet, der sich langsam aber sicher zu einer dicken Schicht verdichtete. Ihre Füße verschwanden darin, als watete sie durch milchig trübes Wasser. In der Ferne sah sie für einen kurzen Augenblick ein Licht aufblitzen. Das gab ihr einen neuen Anhaltspunkt, und sie begann erneut zu laufen. Ärgerlich stieß sie Äste und Ranken beiseite, die sie zurückhalten wollten. Dann plötzlich öffnete sich der Wald um sie herum, und bevor sie anhalten konnte, traten ihre Füße ins Leere.

Ihr Lauf wurde abrupt gebremst, als ihre Beine in eine zähflüssige Masse eindrangen. Der Nebel um sie herum stob in einer konzentrischen Wellenform auseinander, und sie konnte sehen, was geschehen war: Sie war in die Grube geraten, die sie in ihrem Traum und auf den Zeichnungen gesehen hatte. Innerlich stieg Panik in ihr auf. Es gab hier niemanden weit und breit, der ihr jetzt zur Hilfe kommen konnte. Verzweifelt versuchte sie, sich aus dem Schlamm zu befreien, doch der Sog des Morastes war zu stark. Ihr Körper steckte nun bereits bis zur Hüfte in dem übelriechenden Schlamm, und jede Sekunde sank sie ein Stück tiefer ein. Voller Angst schrie sie um Hilfe und mühte sich ab, dem sicheren Erstickungstod zu entkommen, doch jede ihrer Bewegungen ließ sie nur noch schneller hinabsacken. Die Grube hielt sie in ihrer kalten Umklammerung gefangen und war nicht gewillt, sie jemals wieder freizugeben. Schmatzend stiegen Luftblasen um sie herum auf, die faulige Dämpfe mit sich brachten. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, je tiefer sie einsank; nur noch ihre Schultern, die Arme und ihr Kopf ragten noch aus dem Morast heraus. Ihre Kraft verzehrte sich zusehends, bald schon war sie kaum noch fähig, einen Laut hervorzubringen. Ihre schwachen Befreiungsversuche waren nun nicht mehr als unwillkürliche Bewegungen eines kraftlosen Körpers, der nahezu alle seine Reserven erschöpft hatte. Bald schon würde der Schlamm ihren Kopf erreichen, in ihren Mund eindringen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Nur noch kurze Zeit darauf würden sich ihre Hände aus der Oberfläche strecken und nach einem Halt suchen, den es niemals geben würde.

Philip parkte vor der großen Garage und schaltete den Motor ab. Fröhlich pfeifend lud er die Einkäufe aus und trug die beiden Taschen zum Hauseingang. Dort blieb er verwundert stehen, als er sah, daß die Tür offen war. Er blickte sich um, konnte Melanie aber nicht entdecken. Also stieß er die Tür ganz auf und betrat den Flur. »Melanie! Ich bin wieder da!« rief er, gab der Tür einen Schubs und trug die Taschen in die Küche. Bisher hatte sich noch nichts geregt. »Melanie?« Immer noch keine Antwort. Da kam ihm eine Idee. Leise ging er die Treppe hinauf und öffnete vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer. Wider Erwarten fand er sie jedoch auch dort nicht. Das Bett war nicht benutzt. Schulterzuckend ging er ins Erdgeschoß zurück und betrat das Wohnzimmer. Auch hier keine Spur von seiner Freundin. Nur das Buch mit den Zeichnungen lag auf dem Tisch. Der Einband war offen, und einige Seiten waren unter dem Gewicht eingeknickt. Behutsam drehte Philip das Buch herum und besah sich die Blätter. Sie waren leer. Vorsichtig blätterte er einige Seiten zurück, bis die letzte Zeichnung auftauchte. Es war das Bild des Jungen, wie er am See saß. Ach du meine Güte! dachte er. So verrückt kann sie doch nicht sein? Sie weiß doch überhaupt nicht, wo der See ist! Sie wird sich noch verlaufen! Achtlos warf er das Buch wieder auf den Tisch und eilte aus dem Zimmer hinaus.

Nur wenige Minuten später stieg er aus seinem Astra aus. Er war so weit es die Straße zuließ den Feldweg hinaufgefahren, doch jetzt blieb kein Platz mehr für den Wagen. Also nahm er die Taschenlampe, die er mitgenommen hatte, vom Beifahrersitz und lief los, um den Weg zum Pfad zu suchen. Er war nur selten in der Dunkelheit hier gewesen, daher lief er zunächst an der richtigen Stelle vorbei. Dann aber fand er den Pfad und folgte ihm durch die Bäume hindurch. Während er lief, rief er immer wieder Melanies Namen, in der Hoffnung, eine Antwort von ihr zu bekommen. Äste schlugen ihm schmerzhaft ins Gesicht, doch er achtete nicht darauf. Mit geducktem Körper rannte er weiter den unsichtbaren Pfad entlang, bis er schließlich die leise Stimme seiner Freundin vernahm, die erschöpft nach ihm rief. »Melly! Ich komme! Ich bin gleich bei dir!« Nach seiner Orientierung war er nur noch etwa zwanzig Meter von der Lichtung entfernt. Und tatsächlich öffnete sich der Wald nur wenige Sekunden später vor ihm. Voller Entsetzen sah er, wie Melanie verzweifelt ihre Arme nach ihm ausstreckte. Sie war bis zum Hals in einer schlammigen Grube versunken, die anstelle des klaren Sees die Mitte der Lichtung bildete. Philip ließ die Taschenlampe fallen und blickte sich suchend um. »Halt aus, ich hole dich da sofort raus!«

Ein paar Meter weiter ragte ein umgestürzter Baumstamm in den Schlamm hinein. Philip suchte sich einen langen, festen Stock und kletterte dann bäuchlings auf den Stamm, um das Holzstück seiner Freundin anzureichen. Allerdings war der Stamm zu weit entfernt, also wagte er sich auf die Äste vor, die von ihm ausgingen. Schließlich konnte er den Stock weit genug hinausreichen, so daß sie ihn ergreifen und sich an ihm festhalten konnte. Mit enormer Kraftanstrengung gelang es ihm, sie ein Stück aus dem Morast herauszuziehen und den Stock in Richtung des Ufers zu drehen. Er spürte, wie die Äste unter seinem Gewicht ächzten und knarrten. Immer weiter drehte er den lebensrettenden Halt zum Rand des Schlammloches hinüber, bis Melanie endlich festen Boden unter sich hatte. Keuchend vor Erschöpfung blieb sie liegen, von oben bis unten mit Morast beschmiert. Philip ließ den Stock los, und drehte sich behutsam um. In diesem Augenblick aber gaben die Äste unter ihm nach.

»Philip, nein! Paß auf!« rief Melanie, doch es war bereits zu spät. Mit einem dumpfen Aufklatschen fiel er in die Grube hinein. Verzweifelt versuchte er sich an den übrigen Ästen herauszuziehen, doch hielten sie der Belastung nicht stand und brachen. Melanie wollte ihm zur Hilfe kommen, doch sie war am Ende ihrer Kräfte und konnte nicht aufstehen. Tatenlos mußte sie zusehen, wie ihr Freund, mühsam nach Luft ringend und vergeblich an den brüchigen Ästen Halt suchend, immer tiefer in den Schlamm einsank.

Melanie bot ihre letzten Kräfte auf, griff nach dem Stock, der ihr das Leben gerettet hatte und versuchte, mit ihm über den Stamm zu ihrem Freund zu gelangen. Sie schaffte es auch, ihm das Holz anzureichen, doch ihre Kraft genügte nicht, ihn am Versinken zu hindern. Tränen der Wut und Verzweiflung strömten über ihr Gesicht, während der Stock mehr und mehr ihren schlammverschmierten Händen entglitt. »Philip! Ich kann dich nicht halten!« rief sie. »ICH KANN NICHT!« Dann verlor sie den Stock vollends aus ihrem Griff. Verzweifelt streckte sie eine Hand nach ihm aus, doch war die Entfernung viel zu groß, als daß sie ihn hätte erreichen können.

Plötzlich bemerkte sie einen Lichtschein hinter sich. Dann legte jemand seine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr erschrocken herum und blickte in das Gesicht des Jungen, den sie nun schon mehrmals hier am See gesehen hatte. Sein Körper war in eine weiß schimmernde Aura gehüllt, die jedoch nicht bis zu den Bäumen hinüberdrang. Melanie war wie erstarrt. Das traurige Gesicht des Kindes wandte sich von ihr ab und betrachtete ihren Freund, der hilflos mit den Armen ruderte. Langsam, beinahe gemächlich trat er auf die Äste, die auch Philip als Standhilfe benutzt hatte. Melanie wollte ihm gerade eine Warnung zurufen, als sie sah, daß sich das Holz unter seinem Gewicht keinen Millimeter bewegte. Sprachlos sah sie zu, wie der Junge einen Schritt nach dem anderen machte, ohne auch nur einmal aus dem Gleichgewicht zu kommen. Schließlich stand er auf den äußersten Ausläufern der Zweige und beugte sich zu Philip hinab. Seine schimmernde Hand ergriff die des jungen Mannes und begann, ihn aus dem Morast zu ziehen. Ebenso langsam wie zuvor, ging er nun rückwärts den Weg bis zum Stamm zurück, auf dem Melanie mit großen Augen hockte. Hustend ergriff Philip den festen Halt, als der Junge ihn losließ. Kurz darauf half Melanie ihm auf die Beine zu kommen und sich ans Ufer zu schleppen. Dort brachen sie beide erschöpft zusammen und starrten den immer noch weiß schimmernden Jungen an.

Er blickte die beiden eine Weile schweigend an, wandte sich dann um und ging auf die Grube zu. Melanie wollte aufstehen, doch Philip hielt sie zurück. Dort, wo der Junge den Morast berührte, bildete sich das normale Wasser, das sie am gestrigen Mittag noch so fasziniert hatte. Er schritt über den See hinweg und blieb in seiner Mitte stehen. Inzwischen war nichts mehr von der Grube zurückgeblieben; der See war wieder klar und sauber, so, wie sie ihn zuerst gesehen hatte. »Einmal habe ich versagt«, flüsterte der Junge. Obwohl er nicht laut sprach, konnten die beiden am Ufer jedes Wort verstehen. Während er weitersprach, schien er zu wachsen. »Einmal verlor ein Mensch durch meine Schuld sein Leben. Doch jetzt habe ich diese Schuld bezahlt.« Aus dem Kind war nun ein älterer Mann geworden. Philip stockte der Atem, als er das Gesicht seines Vaters erkannte. Er ergriff Melanies Hand und stand auf. Die Stimme des ehemaligen Jungen wurde lauter. »Vater! Ich hoffe, du wirst mir nun verzeihen, wenn ich zu dir zurückkehre!« Langsam begann er im klaren Wasser des Sees zu versinken. Noch einmal wandte er sich zu dem am Ufer stehenden Paar um und winkte. Kurz darauf war er verschwunden. Die leichten Wellen, die von der Mitte des Sees aus ans Ufer kamen, spiegelten das Licht des nun hell scheinenden Mondes vielfach wider. Dann verloren die Spiegelungen an Glanz und Strahlungskraft, bis der See wie jede andere Wasserfläche vor ihnen lag. Leichter Nebel kam auf, und Melanie fröstelte. Langsam verließen die beiden den See, der nun völlig still hinter ihnen lag.

ENDE