Der Jäger
(Eine Vampirgeschichte von Dario Abatianni (C)30.09.1995)

Lange, weiße Zähne blitzten in der nächtlichen Düsternis. Der Jäger wartete geduldig auf sein Opfer. Als es nahe genug herangekommen war, stürzte er aus seinem Versteck hervor. Sein heiserer Triumphschrei hallte durch die ansonsten völlig stillen Straßen der Großstadt. Die Fänge durchschlugen die Haut am Hals des Opfers, das sich aus dem festen Griff zu befreien versuchte. Nur wenige Sekunden später kehrte die Ruhe zurück. Nur der tote Körper einer Ratte zeugte von der Jagd, die der pechschwarze Kater erfolgreich beendet hatte.

Der junge Mann hatte den Ausgang des Schauspiels beobachtet und leckte sich die Lippen. Wie lange war es nun her, seit er das letzte Mal seinem unbändigen, furchterregenden Trieb nachgegeben hatte? Zu lange. Es schlief in ihm wie eine Bestie, die, wenn ihre Ketten gesprengt wurden, nicht mehr zu halten war. Seinem starken Willen hatte er es zu verdanken, daß er schon lange nicht mehr rückfällig geworden war. Nur in den Nächten wie dieser, die ihn nicht schlafen ließen, lief er in Gefahr, die Wochen der Selbstbeherrschung durch einen schnellen Biß nichtig werden zu lassen.

Dabei war es schon fast geschafft. Nur noch wenige Tage trennten ihn von seinem angestrebten Ziel. Dann würde er endlich seinen Fluch besiegt und die ewig erscheinenden Jahre in den Schatten hinter sich gelassen haben. Der volle Mond, der auch jetzt am Himmel stand, war sein einziger Feind. Ihm mußte er widerstehen, nur noch heute Nacht. Ihm mußte er beweisen, daß er der Stärkere war.

Er dachte daran, wie sein Widerstand begonnen hatte. Bianca hatte eine nicht unbedeutende Rolle dabei gespielt. Er war in jener Nacht noch spät unterwegs gewesen, um seinen Durst zu stillen. Dabei war sie ihm über den Weg gelaufen. Gewöhnlich fackelte er nicht lange, um dem Trieb zu folgen; viele Menschen hatten schon diese, für sie tödliche, Erfahrung gemacht. Doch Bianca hatte etwas an sich, das ihn zögern ließ. Ein beinahe vergessenes oder verdrängtes Gefühl brach sich eine Bahn in sein Gehirn. Diese Frau, so schwor er sich, sollte nicht für ihn ihr Leben lassen. Vielmehr wollte er sie in seinem Leben haben. Doch das hieße, sich dem Fluch gegenüberzustellen.

Er hatte ihr vor längerer Zeit von seiner Bürde erzählt, doch sie hatte ihm anfangs natürlich nicht geglaubt; bis er ihr einmal beinahe an die Kehle gegangen wäre. Das war auch eine solche Nacht gewesen, in der er nur wenig Kontrolle über sich hatte. Doch glücklicherweise bekam er noch rechtzeitig mit, wen er da gerade bei sich hatte. Seitdem arbeiteten sie an seiner Selbstbeherrschung. Allein in dieser Nacht, der dritten Vollmondnacht, hatte er alleine die Wohnung verlassen, um endlich seinem Schicksal entgegenzutreten.

Das Klacken harter Absätze hallte durch die Dunkelheit. Er wandte sich um und erkannte, wer sich ihm näherte. Das bleiche Gesicht des Mannes zeigte keinen Ausdruck. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, das nur seine Augen nicht erreichte. Er sah genauso aus, wie an dem Tag, als er ihn auf die dunkle Seite gezogen hatte. Jetzt war es endlich zur letzten Begegnung gekommen.

»Ich habe gehört, du kehrst dich von uns ab, Steve?« Er hatte sich bis auf zwei Schritte genähert. »Gefällt es dir bei uns nicht mehr?«

»Wie du siehst, Darren. Ich habe mich lange genug von euch beherrschen lassen. Mein Leben gehört euch nicht mehr.«

Darren lachte. »Du solltest wissen, daß das Leben, das uns gehört, uns auf ewig gehört. Niemand verläßt unsere Gemeinschaft jemals wieder.« Er hob eine Hand und zeigte auf Steve. »Und wenn du es tatsächlich versuchen solltest, wirst du das letzte Mal den Aufgang des Mondes gesehen haben.«

»Wir werden sehen«, sagte Steve. Damit warf er sich seinem Gegenüber entgegen. Darren erwartete den anderen bereits. Sie prallten aufeinander und versuchten, sich gegenseitig zu Boden zu ringen. Steve wußte, daß Darren weit mächtiger war, als er es jemals sein würde. Daher mußte er sich in acht nehmen, der andere brauchte ihm schließlich nur seine Zähne in eine der Schlagadern zu treiben, um ihn endgültig zu vernichten. Steve selbst hatte nur die Möglichkeit, Darren bis zum Sonnenaufgang festzuhalten. Das Licht würde die Macht des Erzvampirs schwächen und Steve die Gelegenheit geben, seinerseits zuzubeißen. Das war der einzige Weg, der Dunkelheit zu entfliehen.

Ein heftiger Schlag von Darren warf ihn quer durch die Gasse. Mit einem Schmerzensschrei prallte er gegen zwei Abfalltonnen, die klappernd ihren Inhalt über dem Boden verstreuten. Darren war einen Augenblick später wieder über ihm. Steve hatte sich in der Zeit einen Stahlhaken gepackt und schlug jetzt damit zu. Das Gesicht des anderen flog zur Seite, und eine blutige Strieme erschien auf seiner linken Wange. Ein nachfolgender Tritt von Steve beförderte ihn in die Mitte der Gasse zurück. Darren fuhr sich mit der Hand über die Wunde, betrachtete das Blut in seiner Handfläche und leckte es dann genüßlich ab.

Steve hatte sich aufgerichtet und stand jetzt mit seiner Stange in drohender Haltung vor seinem Feind. Mit lautem Geschrei stürmten sie aufeinander zu. Steve schlug den Haken in Richtung von Darrens Kopf, doch der Erzvampir wehrte den Hieb ab, ergriff den oberen Teil der Waffe und wand sie aus Steves Griff. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit schwang er die Stange vor Steves Schienbein, woraufhin dieser aufschrie und zu Boden ging. Ein weiterer Schlag auf den Rücken ließ ihn vollends die Luft verlieren. Seine Sinne schwanden; er sah sein Ende gekommen.

Darren warf die Stange beiseite und packte Steve am Kragen. Er zog ihn zu sich heran, drehte ihn herum und blickte ihm ins Gesicht. »Ich sagte dir, niemand verläßt die Gemeinschaft ungestraft.«

Steve antwortete nicht. Die Schmerzen in seinem Körper raubten ihm die Kraft. Darren senkte seinen Kopf. »Nun wirst du sehen, auf welche Weise du der Gemeinschaft entfliehen kannst.« Sein Mund öffnete sich, um die nadelspitzen Zähne zu entblößen. Dann führte er sie an Steves Hals.

Darrens Körper spannte sich vor Schmerzen, sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Schmerz, Wut und Verzweiflung. Dann erschlaffte er und fiel zu Boden. Bianca hielt immer noch den schweren Hammer, mit dem sie dem Erzvampir den Holzpflock durch das Herz geschlagen hatte. Als sie wieder zur Besinnung kam, ließ sie das Werkzeug fallen und kniete sich weinend neben Steve hin. Sie nahm seinen Kopf in ihren Schoß und strich ihm über das Haar.

In den dunklen Gassen erklang der laute Schrei einer Katze, die weiterhin ihrer Jagd nachging.

ENDE